Nach und nach merkte die Pferdeschnauzige, mit welchem Erfolg sie ihre Frageverbote gegen den Jungen durchgesetzt hatte, und da sie der Sache langsam gewahr wurde, regierte sie über ihn mit jedem Tag virtuoser.
Du bist Dreck, sagte jedes ihrer Worte, jede ihrer Gesten. Selbst der blau gedoppelte Strahl des Tabaksrauchs, stoßend aus ihren Nüstern, bei in den Nacken gelegtem Kopf und halbgeschlossenen Augen, sagte dem Jungen: Du bist Dreck. Du verstehst das ja alles gar nicht. Meine Kultiviertheit!
Du bist der Dreck da unten, ich bin der Glanz auf den Höhen. Du bist draußen, aber ich bin drinnen. Ich habe Anteil an dieser glänzenden Welt, der Welt der Kultivierten, du stehst vor der Tür. Ich kann das alles, du kannst nichts. Ich gehöre zu diesen lichten Menschen, ich bin eine von den Lichtexistenzen, dies alles ist ganz Ich. Du kannst bloß draußen vor der Tür stehen und dumpf starren. Draußen vor der geschlossenen Tür, hinter der die grandiosen Dinge geschehen, von denen du ausgeschlossen bist. Ich bin drinnen, du bist draußen. Ich bin kultiviert, du bist der dumpfe Abfall.
Es ist merkwürdig, sie brachte es soweit, dass er das Wort „kultiviert“ als eine gezielte Beleidigung empfand, sobald sie es aussprach. Es war auch so gemeint. Sobald sie es aussprach, zuckte er innerlich zusammen. Innerlich. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, das hatte er gelernt, wenn schon sonst nichts.
Niemals denen die Genugtuung geben, dass ich mir was anmerken lasse.
Nur seine Tränen zuweilen, der Sylphide wegen, die hatte er nicht unterdrücken können, aber es geschah nur einige wenige Male, dann hatte er sich im Griff.
Und die Pferdeschnauzige zündete sich eine an und schluckte ihre Tabletten und redete von ihrer Kultiviertheit, und damit, implizite, von seiner Stoffeligkeit, seiner Fühllosigkeit, seiner Unfähigkeit.
Sie redete von seiner Unreife.
So, wie sie das Wort „kultiviert“ als gezielte Beleidigung zu nutzen verstand, richtete sie das Wort „reif“ gegen ihn.
Er wusste, er war „unreif“. Das hatte er gehört bis zum Abwinken, sein ganzes Dasein war durchwirkt von Unreife. Unreife war zentrales Merkmal seiner Existenz.
Aber was sollte das bedeuten?
Unreif?
Er wusste es nicht, er wusste nur, er konnte nichts tun gegen seine Unreife, so wenig er etwas tun konnte gegen seine Unkultiviertheit.
Dass er „unreif“ sei, hatte er schon zu hören bekommen, da war er gerade mal vier Jahre alt gewesen. Total unreif, der Bengel. Wahrscheinlich war es schon früher gesagt worden, aber weiter als bis ins vierte Lebensjahr reichte seine Erinnerung nicht zurück, so unreif war er.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 19.01.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)