Huftritt

Der glosende Flammenherd unter der Rauchsäule dröhnte gleichmäßig vor sich hin, der Fluss gab den Schall ungehindert weiter.

„Roger!“ rief  Magdalena, hin und her gerissen zwischen Aslan, der dort unten auf dem Weg stand und rief, und der Gebüschinsel, wo sie die beiden Jungen sah. „Roger! Hör doch! Aslan ruft dich!“

Endlich verstand Roger, er eilte den Weg hinunter, zu Aslan.

„Was ist bloß passiert?“ fragte er.

„Du siehst ja …“ antwortete der Kaufherr mit einem kurzen Kopfnicken hinüber zur Silberstadt.

„Mein Wagen ist fort“, klagte Roger, indem er Aslan half, das Geschirr wieder in Ordnung zu bringen und die schnaubenden Tiere zu beruhigen.

„Der ist sort drüben im Gebüsch“, sagte Aslan, „dort, bei den Kindern, ich hab’s gesehen, wie die Ochsen hineingerannt sind. Wahrscheinlich sind sie hängengeblieben und stehen jetzt da …“

„Ich hatte keine Zeit mehr, sie festzuhalten“, sagte Roger. „Ich konnte gerade noch abspringen, als es losging, und Inge hinterher, da sind sie schon durchgegangen …“ Er schämte sich, dass es ihm nicht gelungen war, seinen Wagen zu bewahren, Aslan, natürlich, der hatte es gekonnt, er war in solchen Dingen besser als Roger, es hatte keinen Zweck, sich darum zu kränken … Hoffentlich würde Inge ihm nicht wieder endlose Vorwürfe machen …

Aber Inge hatte andere Sorgen im Augenblick. Sie versuchte verzweifelt, mit Waldemar zurande zu kommen, der sich um keinen Preis anfassen lassen wollte, vielmehr dastand, im Gras, Arme und Beine gespreizt, damit sie nur ja nicht irgendwo anstießen, und leise vor sich hin weinte.

Wie sah er aber auch aus! Überall, wo nur ein Fleckchen nackter Haut bloßlag, war er gestochen worden, und war geschwollen und gedunsen, dass man seine Gesichtszüge nicht mehr erkennen konnte. Dicht an dicht saßen nebeneinander auf der Haut schneeweiße, erhabene Pünktchen, um die herum es sich rosa und entzündet aufdickte.

Das musste brennen wie Feuer.

Eluard stand daneben und hielt vor Schrecken und Mitgefühl die Hand vor den Mund geschlagen, die kleine schwarze Katze blieb übrigens immer dicht bei ihm.

Inge, die wieder klar denken konnte, sah, dass sie hier nichts ausrichten könne, und sie schrie quer über die Wiese: „Grand Mère, komm her, du musst uns helfen!“

„Hilf mir mal auf“, ächzte Grand Mère und streckte die Hand aus, sie saß ja platt auf dem Erdboden, und Magdalena half ihr auf die Beine, das ging nicht ab ohne Schnauben und Schnaufen, aber es gelang.

„Grand Mère, nun komm doch … wo bleibst du denn?“ rief Inge erneut.

„Jaja“, rief Grand Mère zurück.

„Was da bloß los ist?“ fragte Magdalena ängstlich. „Ich komme mit, warte …“

„Magdalena, komm doch mal zu uns, hierher“, rief Aslan vom Wagen her.

Magdalena blieb unschlüssig stehen, was sollte sie tun, und Grand Mère, die schon davoneilte, sagte, über die Schulter: „Geh zu Aslan, mein Kind, ich komm dort drüben schon zurecht, wenn nicht, kann ich immer noch rufen.“

Magdalena nickte und begab sich hinüber zum Wagen, nicht ohne immer wieder ängstliche Blicke nach dem Feuer über der Silberstadt zu werfen.

Es gloste und brannte gleichmäßig, die Erde war eine dunkle Glocke, die gab tönernen Widerhall, aus dem Steingrund.

„Magdalena“, sagte Aslan, „wir müssen hinübergehen zu Rogers Wagen und zusehen, was mit ihm ist … die Ochsen sind wieder ruhig. Kannst du auf sie achtgeben?“

„Ja, mein Lieber, natürlich“, antwortete Magdalena, obwohl ihr nicht behaglich war bei dem Gedanken, so ganz allein mit den Tieren hier am Fluss zu bleiben, „aber jetzt sag doch, was ist hier geschehen, was …“ Sie brach ab und starrte Aslans Bein an. „Du blutest ja!“ rief sie. „Was hast du gemacht, zeig doch mal her …“

Aslan schaute überrascht an sich hinunter, er hatte selbst nichts bemerkt, aber es stimmte, sein linkes Hosenbein war zerfetzt und von Blut durchtränkt. Magdalena bückte sich rasch und rollte den Leinenstoff nach oben, da zeigte sich, von oben nach unten über die ganze Länge des Schienbeins laufend, eine tief eingegrabene Abschürfung, die Haut war fasernd und krümelig weggerissen worden, dass das rohe Fleisch offenlag, und es blutete stark.

„Bei Vautrin!“ rief Roger aus, und auch er bückte sich und betrachtete die Wunde. „Wenigstens sieht man den Knochen nicht“, sagte er, „dann kann es gar zu tief nicht gehen …“

Aslan starrte immer noch überrascht auf sein Bein. „Ich begreife nicht …“ sagte er. „Ich spüre nichts …“

„Das kommt noch“, sagte Roger und machte eine vielsagend-abwehrende Handbewegung, „verlass dich drauf …“

„Einer der Ochsen muss dich getreten haben“, sagte Magdalena, „es kann nicht anders sein … du bleibst jetzt hier, und wir holen Grand Mère, dass sie sich das ansieht …“

„Kommt nicht in Frage“, wehrte Aslan ab. „Wir müssen uns zuerst um Rogers Wagen kümmern, alles andere kann warten. Solange ich noch laufen kann, ist es nicht so schlimm …“

Magdalena fügte sich, unter anderen Umständen hätte sie sich wohl heftiger widersetzt, aber hier war die Verwirrung groß, alle liefen sie hin und her, und drüben brüllte und gloste das Feuer …

Sie packte die Ochsen bei den Maulriemen und redet ihnen beruhigend zu, in vielen Worten, freundlich und mit gedehnten Vokalen, dass die schweren Tiere reglos standen und lauschten, lauschten der Stimme, die hineinsank in ihr Bewusstsein und sich ausbreitete, warm und lieblich, bis nichts anderes mehr darin war, nur die Stimme, der sanfte Klang.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 18.01.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)