Gewalt

Dann hub sie wieder an zu reden, unstillbare Suada. Ich berichtete ja schon wiederholt davon, sie hatte diese Art, durch die Nase zu sprechen, sie hielt das für kultiviert, kultiviert bis in die Fingerspitzen. Sie redete zu dem Jungen, und jedes ihrer Worte sagte: Du weißt ja gar nicht, wovon ich rede, das ist ja alles viel zu hoch für dich, was rede ich überhaupt.

Süffig-sämiges Genase, herablassend mitleidig. Halbschlaffes Lächeln im Gesicht, die oberen Augenlider stets etwas hängend, müd tragisch.

Sie vermochte über Techniken der Demütigung, die hätten jeden Zuschauer an der Richtigkeit seiner Wahrnehmung zweifeln lassen. Es gab keine Zuschauer. Nur die knochige Katze, und die blieb gleichmütig, sie kannte alles schon, wie der Junge lebte sie in einem Zustand latenter Alarmiertheit, war jederzeit des jederzeit möglichen Ausbruches von Gewalt gewärtig, aber anders als der Junge stand sie nicht unter Strom.

Die Pferdeschnauzige praktizierte ihre Techniken.

 Wenn sie ihre Suppe schluckte, Tütensuppe versteht sich, blies sie über jeden Löffelvoll, bevor sie ihn in ihr Riesenmaul schüttete, und zwar blies sie waagerecht über den Löffel, so, dass dem Jungen der Schwall direkt ins Gesicht wehte, quer über den Tisch, ihr Blas in seinem Gesicht, es würgte ihn, er hielt den Atem an, um nicht die Luft direkt aus ihren Lungen in die seinen zu bekommen, er wusste nicht, was sie sich dabei dachte, noch weniger wusste er, wie sich wehren. Ihr Atem war faulig, untermischt mit kaltem Tabakqualm. Sie unterbrach zuweilen ihr Essen, um sich „eine anzuzünden“, die bleiche Gesichtsfarbe des Jungen, die die Grimmvettel höhnisch „käsig“ nannte, durchblicken lassend, diese Käsigkeit seiner Gesichtsfarbe sei von dem Jungen schuldhaft zu verantworten, diese Blässe also ließ sich problemlos auf das chronische Mitrauchen des Kindes beim Qualmen erst des Geelters gemeinsam, nun der Pferdeschnauzigen allein zurückführen. Die Küche war oft genug dicht von blauen Schwaden durchlungert, und wenn der Junge dann und wann mit der Pferdeschnauzigen in ihrem Auto fuhr, auf dem Beifahrersitz, rauchte sie ebenfalls, er bekam Kopfschmerzen davon. Wie auch immer. Sie saß ihm gegenüber und blies über ihren Suppenlöffel, und er bekam den Blas ins Gesicht. Er hielt den Atem an. Er dachte später, ich hätte es darauf ankommen lassen sollen, hätte ihr sagen sollen, blas mir nicht ins Gesicht, ich find das ekelhaft. Ja. Darauf hätte ich es ankommen lassen sollen. Vielleicht hätte das den Sitzungen am Abendbrottisch abrupt ein Ziel gesetzt. Ich hätte das tun sollen. Aber während es geschah, wagte er nicht einmal, solchen Widerstand zu denken, geschweige denn, ihn auszusprechen. Sie hatte Vollmacht über ihn und diktatorische Gewalt, sie merkte das nur langsam, dann aber schwoll sie in der Erkenntnis.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 17.01.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)