Eluard öffnete die Augen, blinzelnd, doch war er so klug, vorher den Kopf zur Seite zu drehen (der schien noch fest auf den Schultern zu sitzen); er sah in Grashalme hinein, und auf einem kletterte eine zarte grüne Fliege, mit durchsichtigen Flügeln und schwingenden Fühlern.
Die lebte auch noch, dann war es vielleicht kein Wagnis, sich etwas aufzurichten, etwas, nur ein bisschen?
Eluard stützte sich auf die Ellbogen und hob den Kopf, und im gleichen Augenblick begann er sämtliche Knochen zu spüren in seinem Körper, und im Kopf begann sich ein wuchtiges Mahlrad zu drehen, aus grobkörnigem Stein, es lag offenbar waagerecht und drehte sich flach und schleifend über einem Mahlstein, der befand sich irgendwo zwischen seinen Ohren, hinter der Nase, aber sein Kopf musste gewachsen sein, gewaltig gewachsen in der letzten Zeit, denn das Mahlrad war groß, mindestens so groß wie eines der Wagenräder, und es drehte sich ganz ungehindert in seinem Kopf, dort musste neuerdings Raum sein, viel hohler, freier Raum …
„Hilfe“, jammerte Waldemar., „hier bin ich, hier …“
Und da vorne war eine Gebüschinsel. Merkwürdig … sah aus, als sei zwischen den Bäumen eine Plane aufgespannt, eine Wagenplane, vielleicht wollten die Kaufleute die Gebüschinsel als Gefährt benutzen, die Ochsen davorspannen, seltsam war das schon, sie würde sich doch viel eher als Boot eignen, nun ja, aber warum nicht, es war ja ein Fluss gleich dahinten …
„Wo seid ihr denn“, jammerte Waldemar, „wo seid ihr denn bloß?“
Waldemar! Endlich wurde Eluard wach. Es hatte eine Explosion gegeben, eine Explosion in der Silberstadt, Verwirrung, Aufruhr, und Waldemar rief um Hilfe, also los …
Er raffte sich hoch (mit einem protestierenden Laut rutschte die kleine schwarze Katze in’s Gras), kam auf die Beine, schwankend zunächst, er fühlte sich, als hätte jemand mit einem dicken hölzernen Hammer auf ihm herumgeschlagen, aber siehe da, die Beine trugen ihn … woher kam das Jammern? Richtig, dort vor dem Gebüsch, aus dem Gras …
Eine Wiese, eine Kolonie hoher Brennnesseln, und darin lag Waldemar, wie sah er aus …
Von irgendwoher, aus den weiten Bereichen der Zeitlosigkeit, flog Eluard ein Impuls zu, eine Geste seines toten Vaters, und er streckte die Arme aus, mit helfenwollender Gebärde, wie es der Maître Eluard getan hätte, und rief: „Ach, Waldemar, was ist dir passiert?“
„Ich bin vom Wagen gefallen“, jammerte Waldemar, „und da waren Brennnesseln …“ Das stimmte nicht ganz, er hatte sich selber vom Wagen gestürzt, als der endlich zum Halten gekommen war, aus Angst, den Ochsen möchte es gelingen, das Gefährt wieder flott zu bekommen, in ihrer trampelnden Panik … aber darauf kam es ja nun nicht an.
„Dann komm doch da raus“, rief Eluard bestürzt und trat einen Schritt auf Waldemar zu, ihm zu helfen, aber das bekam ihm schlecht, die Brennnesseln waren bissig und schonten seiner nackten Beine nicht, das war eine besonders übelwollende Sorte …
„Nun komm doch raus“, wiederholte Eluard drängend. „Ich kann da nicht rein, es nützt doch nichts, wenn ich mich auch noch steche.“
Waldemar, der einen praktischen Verstand hatte, sah das ein, fragte aber vorsichtig, aus geschwollenen Lippen: „Was ist da draußen? Ist es noch schlimm?“
„Nein“, entgegnete Eluard, ohne sich nach der Silberstadt und dem Feuer umzuwenden, „du siehst doch, ich stehe hier, es passiert nichts, nun komm endlich da raus.“
Waldemar richtete sich auf, und die erbarmungslosen Pflanzen bissen und nesselten und stachen, dass es sich anfühlte, als würde sein ganzer Körper anfangen zu glühen, aber es nützte nichts, er musste hier raus, und er biss die Zähne zusammen, sprang mit einem Ruck hoch und machte einen gewaltigen Satz heraus aus der hochstehenden Kolonie, konnte aber nicht verhindern, dass beim Sprung sein rechtes Bein die Pflanzenbüschel rauschend pflügte wie ein Schiffskiel das Wasser.
„Au!!!“ schrie er gellend, und fiel Eluard in die Arme, der ihn auffing und tröstend zu streicheln begann, „auuuu … das tut weh!!!“
Sein Schrei machte Inge munter, die immer noch unter Roger lag und fühlte, wie ihre wundgeriebene Nase zu schwellen begann.
Sie befreite sich mit einem Ruck, wobei Roger auf den Rücken kugelte, hob sich auf die Knie und starrte verirrt um sich, als sei ihr nicht klar, wo sie sich befinde.
Dann fiel ihr Blick auf den Fluss und die Silberstadt und auf die Rauchsäule, und sie verstand, dass das Gespann fehlte, dass die Ochsen ausgebrochen sein mussten, dass die Kinder keine Zeit gehabt haben konnten, sich vom Wagen herunterzuretten …
„Da hinten sind sie!“ rief Roger, der sich hochgerafft hatte und einigermaßen sicher auf den Beinen stand, und Inge starrte ihn an, dann sah sie, dass er mit ausgestrecktem Arm die Richtung wies, ja, da hinten war eine Baumgruppe, und davor zwei kleine Gestalten, das waren – das waren Waldemar und Eluard, und einer von beiden musste geschrien haben, das hatte sie doch gehört …
Sie zögerte keine Sekunde, raffte die Röcke zusammen und preschte hinein in’s Gras, „ich komme, ich komme!“ rufend.
Von dem Lärm und dem Rufen ermuntert, wagten jetzt auch Grand Mère und Magdalena, die Köpfe zu heben, und da sie sahen, dass unweit Roger aufrecht stand, ohne dass ihm etwas zustieß, stellte sich Magdalena auch auf die Beine, schwankend zwar, doch sie hielt sich, und Grand Mère setzte sich wenigstens auf, in großer Verwirrung den Kopf hin und her wendend.
Weiter wegabwärts war es Aslan endlich gelungen, seine Ochsen zur Ruhe zu bringen, er konnte aufhören, das Geschirr niederzudrücken.
Die Tiere glänzten vor Schweiß.
Aslan spähte an dem Wagen vorbei nach den anderen, und er sah, dass sie auf die Beine gekommen waren.
„He!“ rief er gedämpft, und noch einmal: „He!“, er wagte nicht, die Stimme voll zu erheben, aus Angst, das wilde Tier in der Silberstadt zu erneuter Wut aufzustacheln. „Roger! Komm her und hilf mir!“
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 16.01.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)