Die Tragik

Und die Pferdeschnauzige saß und spielte. Sie höhnte und dröhnte.

Er verstand nicht, wovon sie redete. Sie redete von der Kunst, und dem wahren Verstehen, und dem Unverständnis, und der Größe. Das versteht ja niemand! Versteht das überhaupt noch einer? Hört da überhaupt jemand zu? Weiß davon überhaupt noch einer? Da predigt man ja tauben Ohren! Da kann man sich ja den Mund fusselig predigen! Da predigt man ja gegen die Mauer! Die Kunst! Weiß da überhaupt noch einer, was das ist?

Sie schwoll. Sie redete von Konzerten, denen sie beigewohnt, von Opernaufführungen, die sie gesehen.

Mit „der Oper“ hatte sie es besonders.

Ihr entsinnt euch, dieser Darbietungsform mit den lauten Menschen, die sich auf der Bühne singend verständigen, indes unter ihnen die Banda paukt und schrummelt.

Dramatisch.

Hört auf zu lachen, wir reden über ernste Dinge.

Immerhin, SIE hat euch erschaffen als freie Wesen, die lachen können.

Weiter. Die Pferdeschnauzige.

Sie schwoll über die Größe der Künstler, auf der Bühne. Und wie niemand das verstehe, das Erhabene. Nur sie! Eine ganze Halle voller Gaffer habe da gesessen, Gaffer in der Finsternis, und oben auf der Bühne, im Licht, die Künstler in ihrer Mühe und in ihrer Entäußerung und in ihrer Selbstlosigkeit, Kunst machend! versteht das überhaupt noch einer?!? und den Gaffern, denen sei es nur um ihre kurze Unterhaltung gegangen, die hätten ja schon während der Darbietung begonnen, sich tuschelnd miteinander zu unterreden, weil ihnen langweilig wurde, sie verstanden sie eben nicht, die Größe der Darbietung, die Tragik, die Erhabenheit, nur sie, die Pferdeschnauzige, sie fühlte mit und wusste, fühlte groß und tragisch, fühlte vielleicht sogar mehr als die oben auf der Bühne! Manchmal fragt man sich, wissen die überhaupt, was die da machen, diese sogenannten Künstler? Und wenn alles vorbei war, klatschten die Gaffer Beifall, sie aber, die Pferdeschnauzige, sie fühlte. Und litt. Einsam. Was wussten die schon, die Gaffer.

Der Junge verstand, er war gemeint. Er war Gaffer. Die Pferdeschnauzige musste das nicht sagen, nicht aussprechen. Es verstand sich von selbst. Sie spielte, sie saß, sie höhnte und dröhnte, sie sprach keine direkten Beleidigungen, es war alles mitgemeint. Sie redete gern von Pianisten, die sie gehört, und sie sprach niemals an, dass der Junge ja auch um sein Klavier sich mühe, sie musste das nicht ansprechen, es war alles mitgemeint. Das kannst du ja alles gar nicht, sagte ihr Lobpreis der Abwesenden. Das war ihre Technik. Sie lobte sie pries Abwesende, um Anwesende zu demütigen, auch das hatte sie schon an dem Ganzstiefelvieh praktiziert, das hatte damals sogar der Junge mitbekommen. Das kannst du ja alles gar nicht, sagte ihr Lob, das geht ja alles über deinen Horizont, das ist ja völlig außerhalb deiner Reichweite. Nein, sie sagte das niemals in Worten, aber es klang durch jedes ihrer Worte hindurch, sie machte das sehr kunstvoll, sie konnte das, jahrelange Übung, lebenslange Übung, über zwölf Jahre jeden Tag sorgfältige Praxis an dem Ganzstiefelvieh, jetzt war der Junge dran.

Kultiviert bis in die Fingerspitzen! hatte sie an Abwesenden gelobt, mit sehnsüchtig seufzendem Blick hinauf zur Zimmerdecke, und indes das Ganzstiefelvieh, stumpf und dumpf sein Käsebrot schmierend, gehorsam Zustimmung gemurmelt hatte, hatte sie mit träumerischem Lächeln an ihm vorbei und über ihn hinweg gesehen, direkt an seinem Gesicht vorbei, als sei der Kultivierte irgendwo dahinten sichtbar, irgendwo da in der Ferne, da in der Höhe, sichtbar nur dem sensiblen Blick der Pferdeschnauzigen, das sehe alles ja nur ich, sagte der Blick sagte das halbe Lächeln, ihr wisst ja alle gar nicht, wovon ich rede.

Sie praktizierte das jetzt an dem Jungen, das schlaffe Lächeln, das Blicken vorbei an seinem Kopf, direkt vorbei am Kopf, als sei der gar nicht richtig da, und auf jedem Fall im Wege.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 15.01.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)