Stoffe

So saß der Junge gegenüber seiner Mutter, und verbiss sich die Tränen, sie sprangen ihm immer wieder in die Augen, unbeherrschbar, die Mutter musste das sehen, sie sah es, sie ignorierte es, sie nahm es nicht zur Kenntnis.

Der Junge dachte an die Sylphide, und sah sich gegenüber der Pferdeschnauzigen. Er hatte Grund zu weinen.

Die Pferdeschnauzige spielte.

Sie saß, sie höhnte und dröhnte. Er verstand nicht, dass sie dort weitermachte, wo sie bei dem Ganzstiefelvieh aufgehört hatte. Nahtlos. Je länger das ging, desto besser aufgelegt fühlte sie sich. Neue Glanzlaune ergriff von ihr Besitz, das klappt ja, als müsste es so sein, erkannte sie frohlockend. Sie hatte gedacht, ihre Welt sei untergegangen, nun war ihr aus unerwarteter Ecke Rettung geworden.

Der Bengel!

Wer hätte das gedacht?

Vielleicht hing ihre gute Laune auch mit der Entdeckung neuer Stoffe zusammen. Der mögliche Zusammenhang wurde dem Jungen, wie eigentlich immer, erst im Rückblick klar. Ich habe schon kurz angedeutet, dass er über unbegreifliche Mengen von Medikamentenpackungen kam in ihrem Abfall, Dosen und Schachteln frei verkäuflicher Gifte, Schmerzmittel zumal. Er betrat einmal die Küche, da sie den Abendtisch richtete, irgendwann gewöhnte er sich an, unaufgefordert beizutreten, als sei er tatsächlich der Ehemann, und er sah, wie sie sich eine ganze Handvoll von Schmerztabletten in den Mund warf, der Mund war riesig, Höhlengrab, öffnete sich wie rollendes Gestein in dem stutenlangen Gesicht, und sie warf sich die Tabletten richtig ein, und schluckte sie trocken, ruckend den Kopf in den Nacken werfend, der Junge sah die Gurgel schlucken im langen Sehnenhals, und dann spülte sie mit einem Glas Wasser nach, weiße Spuren klebten im Glas, irgendetwas war darin aufgelöst worden. Der Junge dachte sich nichts dabei, er sah und dachte nichts, ihr müsst euch darob nicht wundern, es ist Brauch unter den Kindern der Menschtiere, sich nichts zu denken bei dem, was die Erwachsenen tun, die machen das so, denken die Kinder.

Und die Pferdeschnauzige ward aufgeräumt aufgekratzt euphorisch, und sie setzten sich nieder, Mutter und Sohn, die Pferdeschnauzige auf ihrer Lichtseite, der Junge auf seiner Finsterseite, und die Pferdeschnauzige spielte. Bespielte ihre Bühne, und der Junge glotzte. Er wusste, das wurde von ihm erwartet, wusste es, ohne dass sie es ihm gesagt hätte. Er wusste, das war seine Aufgabe. Glotzendes Publikum sein, verloren in gaffer Bewunderung.

Es sollte nicht dabei bleiben, erst im Rückblick sah er, da hatte es angefangen.

Er saß und hörte ihrem nasenden Gefasel nicht einmal richtig zu, er dachte mit glühendem Herzen an die Sylphide. Das Denken an die Sylphide war so süß. Es ließ sich von Danken nicht unterscheiden. Es war so süß, dass es sein Herz zerschnitt, dass es seine Geweide zusammenzog, so wie es einem Hungernden den Kiefer zusammenzieht, wenn er unversehens einen reinen Löffel Honigs eingeflößt bekommt.

So süß, allzu süß.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 13.01.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)