Gleichnisse

Die Romane des Unnachahmlichen gaben dem Endlichen einen unendlichen Schein. Nicht Anschein, sondern Widerschein. Von dem Endlichen mussten sie reden, wie jede Dichtung von dem Endlichen reden muss, jede Melodie erzählen vom Endlichen. Von anderem zu reden als dem Endlichen ist dem Menschtier nicht möglich. Es vermag aber das Endliche, von dem es redet, zu umkleiden mit dem Schein des Unendlichen. Das Endliche, umkleidet mit dem Schein des Unendlichen, ist Gleichnis, ist Symbol. Alles Endliche, richtig erzählt richtig musiziert richtig ausgesprochen richtig angesprochen, ist Gleichnis eines Unendlichen. Die Sylphide war ein endliches Wesen, aber sie erschien in der Welt des Jungen und war Gleichnis, Gleichnis des Unendlichen, IHR Gleichnis. Läge irgendein Sinn darin, solch Gleichnis auflösen zu wollen? erklären zu wollen? Welcher denn? Wert und Sinn des Gleichnisses liegt darin, dass es unauflösbar ist. Das Gleichnis erhält seinen Sinn, das Gleichnis erhält die Berechtigung seiner Existenz aus dem Worauf, auf das es sich bezieht. Nicht umgekehrt. Das Worauf aber gibt sich kund durch das Gleichnis, es spricht nicht anders sich aus denn in Gleichnissen. Das Menschtier nämlich fasst nur das Gleichnis. Niemals fasst es das Worauf und Woraus des Gleichnisses. Das Gleichnis aber bezeugt das Worauf und Woraus. Das Gleichnis vermag das Worauf und Woraus nicht zu definieren, das wäre unmöglich. Aber zu bezeugen, und zu bezeugen mit Vollmacht das Woraus und Worauf: das vermag das Gleichnis. Im Gleichnis erkennt das Menschtier: das Gleichnis ist, und indem es ist, bezeugt es sein Worauf und Woraus, und das Zeugnis hat Gültigkeit hat Vollmacht schenkt Gewissheit. Ja. Gewissheit. Diese eine große Würde hat das Gleichnis: es schenkt Gewissheit. Ich bin endlich, sagt das Gleichnis, und als ein Endliches bin ich Gleichnis eines Unendlichen. Indem ich aber Gleichnis eines Unendlichen bin, leiste ich Bürgschaft für das Unendliche. Mein Schein ist nicht nur Anschein, sondern Widerschein und Glanz. Wenn ich leuchte im Endlichen, so deshalb, weil ich angeleuchtet werde aus dem Unendlichen. So bezeuge ich durch meine Endlichkeit hier die Unendlichkeit dort. Vertrauen ist kein Spott.

Jedes Gleichnis ist endlich, und legt Zeugnis ab für das Unendliche. So ist das Menschtier gehüllt in eine Wolke von Zeugen, die alle durch ihre Existenz Zeugnis ablegen für das Unendliche da draußen. Hab Vertrauen, sprechen die Zeugen zu dem Menschtier, denn du darfst Vertrauen haben.

Du darfst Vertrauen haben, denn das Unendliche ist nicht nur dort draußen, unberührt und kalt. Der Sinn ist nicht nur dort draußen, unberührbar und kalt. Sinn und Unendlichkeit teilen sich den Menschtieren mit, in der Zeugenschaft der Gleichnisse, und alles Endliche ist Zeuge, denn alles Endliche ist Gleichnis. So lebt das Menschtier in und mit und aus einer Welt, die Zeugnis ablegt, und dem Menschtier zuspricht vom Morgen bis zum Abend: Verzage nicht, denn wir sind bei dir, wir sind Zeugnis für die Unendlichkeit der Welt, und indem wir die Unendlichkeit bezeugen der Welt, bezeugen wir ihren Sinn. Versuche nicht, diesen Sinn auseinanderzulegen: du wirst notwendig scheitern mit solchem Unterfangen. Begnüge dich mit dem Glück der Gewissheit: Sinn ist. Wir bezeugen dir: Sinn ist. Wir sagen dir: Sinn ist. Hab Vertrauen.

Du bist nicht zum Untergang bestimmt, versprachen die Romane des Unnachahmlichen dem Jungen, versprach die Erscheinung der Sylphide dem Jungen. Du bist nicht zum Untergang bestimmt, zu Glanz und Auferstehung bist du bestimmt. Du bist gesät im Verweslichen, und wirst auferstehen im Unverweslichen. Wir versprechen das. Du bist gesät armselig, wirst auferstehen herrlich. Du bist gesät schwach, wirst auferweckt werden stark. Bist gesät ein irdischer Leib, wirst auferweckt werden ein überirdischer. Wir versprechen das, und unser Versprechen ist kein Spott.

Der Junge wusste dies alles, wusste es mit unergründlicher Gewissheit. Die Gewissheit war gefahren durch ihn hindurch vom Kopf bis unter die Füße, da er das erste Mal ein Werk des Unnachahmlichen in Händen gehalten hatte. Noch bevor er es aufgeschlagen hatte. Begreift das. Noch bevor er es aufgeschlagen hatte. SIE senkt IHRE Versprechen auf vielfältige Art in IHRE Welt, und niemals lügt SIE, niemals. IHRE Versprechen sind wahr, und auch das wusste der Junge, wusste es mit einem Wissen, das keines Woher bedurfte. Denn es ist immer das halbe Wissen, das einer Herleitung bedarf. Das wirkliche Wissen aber überkommt das Menschwesen, und kennt kein Woher und kein Wohin. Es ist Gewissheit und unüberwindlich. Das Menschwesen könnte von der Gewissheit nicht mehr lassen, selbst wenn es wollte. Die Gewissheit gilt, und wenn aller Augenschein gegen sie spricht. Was ist schon der Augenschein? Die Gewissheit geht allem Anschein voraus, und wenn der Anschein verglüht, ist die Gewissheit noch immer da, und leuchtet dem Menschwesen auf allen seinen Wegen.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 11.01.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)