„Waldemar! Eluard!“ rief Inge von den Wagen her. „Geht nicht so weit weg!“
„Ja!“ rief Waldemar zurück. „Wir bleiben in der Nähe!“ Er sprach immer für sie beide, das hatte sich eingebürgert, Eluard war einverstanden damit, erwartete es nicht anders.
Das Gebüsch war dichter, als es ausgesehen hatte; als die Jungen ein paar Schritte weit eingedrungen waren, konnten sie schon die Wagen hinter sich nicht mehr sehen.
„Ich würd gern ein Stück die Straße hochgehen“, sagte Eluard.
Waldemar machte ein zweifelndes Gesicht, er hatte Erfahrung mit Städten. „Wir fahren gleich weiter, du hörst es doch“, sagte er. „Ich glaube auch nicht, dass wir da durchkommen …“
Er hatte recht, man musste sich durch die Sträucher drängen, und dann sah man nichts mehr von den Häusern, jedenfalls nicht, wenn man so klein war wie Eluard; aber Eluard war auch klug, und er schlug sich durch bis zu dem einen Eckhaus, und dann drückte er sich dicht an der Fassade entlang. Waldemar folgte ihm, widerstrebend. Seit wann war Eluard so unternehmungslustig?
„Ist das immer so in den großen Städten?“ fragte Eluard. „Ich meine, dass man gar nicht durchkommt?
„Meistens …“ antwortete Waldemar. „Wenn sie nicht bewohnt sind … wenn es Leute gibt, dann halten die natürlich die Straßen frei, jedenfalls dort, wo sie wohnen …“
Die Straßen freihalten, das heißt, die Leute schlugen sich einen Trampelpfad durch’s Gebüsch, von ihren Wohnungen zu den breiteren Wegen, die auch von anderen benutzt werden.
„Hoch ist das …“ sagte Eluard und schaute die Hauswand empor, er musste den Kopf in den Nacken werfen, da sie eng an der Mauer standen. Zu den Fenstern wehten Gräser heraus, und auf den Ziergesimsen wuchsen sie auch, und im Dachtrauf, dichte Polster und Bärte, und darüber strahlte der blaue Himmel, eines der weißen Wolkenschiffe segelte gerade dahin, in unmerklicher Bewegung, halb sichtbar über der Dachkante.
„Komm, wir gehen ein Stück“, sagte Eluard. „Nur ein paar Schritte …“
Waldemar zögerte zunächst, aber auch er konnte nicht widerstehen, und so folgte er seinem Freund. Sie quetschten sich an der Hauswand entlang, drängten mit den Armen die Strauchranken beiseite.
Ein Fenster, bis auf den Boden reichend; die riesige Glasscheibe war noch heil, bis auf einen kurzen Sprung in der linken oberen Ecke. Gleich daneben öffnete sich ein leerer Türrahmen.
„Siehst du was?“ flüsterte Eluard, denn Waldemar spähte hinein, mit angehaltenem Atem, das war die Furcht vor den leeren Häusern, den finsteren Höhlungen.
„Nein … ja …“ antwortete Waldemar, „nicht so recht …“
„Komm, wir gehen hinein“, sagte Eluard.
Waldemar ließ ihm den Vortritt.
Sie traten ein, mit leisen Schritten, als fürchteten sie zu stören, auch, als fürchteten sie, jemanden oder etwas zu wecken.
Kühlmuffige Luft umfing sie, der charakteristisch Geruch zerbröselnden Gesteins, der fruchtbare Atem des Zerfalls.
Die Schritte knirschten auf dem Boden, das war Staub, zu Sand zerfallener Putz, von der Decke, hereingeweht vom Wind; in den Ecken lag er gehäuft zu flachen Böschungen.
Das Licht, das durch die Fenster einfiel, ließ erkennen, dass sich der Raum weit nach hinten fortsetzte, er nahm wohl die ganze Grundfläche des Hauses ein, versank nach und nach im Dämmer, die Rückwand war nicht mehr zu sehen.
Und angefüllt war er mit seltsamen Gestellen, nicht ganz mannshoch, die standen auf kleinen, walzenförmigen Rädern: ein waagerecht liegender, länglicher Rahmen, auf dessen Schmalseiten je ein aufrechter, spitzgewölbter Bogen stand; und die Bogenscheitel waren durch ein Querrohr miteinander verbunden.
Wie viele Gestelle das waren? Man konnte sie nicht zählen, doch dreißig wohl wenigstens. Sie waren schwarz überkrustet, da und dort blinkte es metallen.
An den oberen Querrohren hingen an gebogenen Haken unzählige Bügel, gefertigt aus einer Gussmasse, die nun schwarz zerbröselte, viele waren hinuntergefallen, dorthin, wo sich am Boden unter den Gestellrahmen dicke Staubhaufen gesammelt hatten, die waren nicht sandig, sondern fein, ganz fein, wehten wohl auch leicht hinweg, wahrscheinlich war deshalb näher bei der Tür der Boden sauber.
Die beiden Jungen sahen sich gespannt um, wagten jedoch nicht, weiter hineinzugehen, es war ihnen ja auch verboten, das wussten sie wohl.
„Und die ganze Stadt ist voll von solchen Räumen“, flüsterte Waldemar, „überall sind sie, und dann gibt es noch die Stockwerke weiter oben in den Häusern …“
Und alle waren sie leer, unbewohnt, standen schweigend, bis Wind und Regen und die Pflanzen sich Zutritt verschafft hatten, das ist die Unzahl der Gehäuse, die sinnlose Fülle der Räume, die Vautrin geschaffen hat für eine Menschheit, die es doch nie schaffen wird, dies alles zu bevölkern …
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 27.12.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)