Tränen

Er wusste nicht, wie er seine Tränen verbergen sollte, er hätte sich keine Sorgen machen müssen, die Pferdeschnauzige begann zu schwadronieren im Augenblick, da er die Küche betrat, sie war vorbereitet, sie hatte sich vorweg schon überlegt, wie sie groß dastehen würde vor ihrem Publikum, das tat sie immer, nur lief ihr für gewöhnlich das Publikum fort, der Junge konnte nicht fortlaufen. Das Ganzstiefelvieh war endlich fortgelaufen, der Junge war noch lange nicht soweit.

Der Junge hatte Tränen in den Augen.

Es war nicht so, dass sie seine Tränen nicht bemerkt hätte, die Tränen ihres Kindes waren ihr einfach egal, sie war zu erfüllt davon, dass sie jetzt ihre Größe darstellen würde.

Wenn die Leute ins Theater kommen, so wusste es in der Pferdeschnauzigen, dann bringen die auch gern all ihre kleinen Lächerlichkeiten mit, ihre Bedeutungslosigkeiten, ihre kleinen uninteressanten Kümmernisse, ihre wertlosen Schicksale, aber wen interessiert das. Wenn der Vorhang aufgeht, gilt das alles nicht mehr, dann hat das alles beiseite zu bleiben, dann geht auf der Lichterglanz der Bühne, und dort herrscht Tragik und Gewalt und Kosmosmittigkeit, und die unten im Zuschauerdunkel, die haben alles zu vergessen, all ihre kleinen Bedeutungen und Wichtigkeiten, all das haben die wegzustecken, für sie gilt jetzt einzig die Wirklichkeit die Gegenwart des Spiels, des Spiels das oben, auf der Bühne, die haben nur noch zu gaffen, wesenlos, entselbstet, ihre Existenz hat nur noch Gültigkeit, insofern sie Masse bilden, Masse der Zuschauer.

Sie hatte den Jungen als Publikum entdeckt.

Die Entdeckung mag euch nicht mehr so überraschend vorkommen, wenn ihr bedenkt, dass die beiden sich seit über einem Jahr praktisch nicht mehr gesehen hatten. In der alten Wohnung, der mit dem Balkon und der Brüstung im fünften Stock, über die rechtzeitig zu flanken der Junge verabsäumt hatte, hatte über Monate hinweg das von der Pferdeschnauzigen induzierte Eisesschweigen geherrscht zwischen Mutter und Sohn, sie waren sich wechselseitig aus dem Weg gegangen, und wenn sie sich begegnet waren, hatte die Mutter erhaben über den Kopf des belästigenden Sohnes hinweg in die leere Luft geschaut, wie es Frauen – oder solche, die sich dafür halten – eben mit Belästigern machen, und dann hatte sie die neue Stelle in der neuen Stadt angetreten, war wieder über lange Monate früh aus dem Haus gegangen, spät zurückgekehrt, und man hatte erneut und erfolgreich jede Begegnung zu vermeiden gewusst, bis zu den Tagen des Umzugs.

Der Junge war jetzt, wie gesagt, vierzehn Jahre alt, und er war rapide gewachsen. Sie sah ihn an, sah ihn voll an zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr, und es muss in ihrem Viehhirn der Gedanke erwuchert sein – der Begriff – die Idee:

Mann.

Publikum.

Eher hätte sich die knochige Katze Gedanken gemacht um die Tränen in den Augen des Jungen als die Pferdeschnauzige, seine Mutter.

Gut für den Jungen, denn hätte sie gefragt, was hätte er sagen sollen?

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 26.12.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)