Abendessen

Die Pferdeschnauzige kam abends nach Hause, in der neuen Wohnung in der neuen kleinen Stadt, und sie war nun auf die Idee gekommen, dass man gemeinsam zu Abend essen müsse. Sie und ihr Junge.

Ihr ermesst das Verhältnis zwischen diesen beiden Menschwesen, Mutter und Kind, wenn ich euch sage, dass der Junge völlig ratlos vor der neuen Einrichtung stand und nicht wusste, was er davon halten sollte. Nicht wusste, was das bedeuten solle. Sein erster und nächstliegender Gedanke war, er und die Pferdeschnauzige würden einige Male gemeinsam Abendbrot festen, und dann würde er dafür bestraft werden. Sei es, dass sie die Lust an der Sache verlieren würde, und, ihr zu entkommen, irgendeine exorbitante Anschuldigung gegen das Kind erfinden würde, ich habe es ja wirklich ernsthaft versucht mit dem Bengel, ich habe mich wirklich eingesetzt, ich habe mich wirklich hingesetzt, ich habe mir wirklich ehrliche Mühe gegeben, wirkliche elterliche Mühe, aber mit dem kann man einfach nicht reden, da ist Hopfen und Malz verloren, alle Liebesmüh rausgeschmissenes Geld rausgeschmissene Geduld – oder sei es, weil sie auf dieses Ergebnis von vornherein hingearbeitet hätte.

Zu seinem Unglück war weder das eine noch das andere der Fall, sie wollte diese Abendessen mit ihrem Sohn, weil sie ihn brauchte. Es war niemand mehr da, mit dem sie sonst hätte reden können, eine Schauspielerin braucht ihr Publikum, und es war niemand mehr da außer dem Jungen, der ihrer Darbietung hätte beiwohnen können, so musste er ran, ohne irgend zu durchschauen, dass er genau das jetzt war: Publikum vor ihrer Bühne. Sie wollte von ihm bewundert werden, wie sie hatte von dem Ganzstiefelvieh bewundert werden wollen, für ihre Tiefe, für ihre Gefühle, für ihre Größe. Der Junge rutschte in die Rolle des Ganzstiefelviehs hinein, ohne zu wissen, wie ihm geschah, ohne zu wissen, dass es geschah, er übernahm den Part des Tumben des Stumpfen, der die Größe und Tiefe der Erhabenen zwar nicht verstehen könne, dem man aber so viel Verständnis doch abzuringen berechtigt sei, dass er um die Größe und Tiefe wenigstens wisse, und ineins damit um seine schuldhaft zu verantwortende Tumbheit und Stumpfheit, so viel konnte man von dem Bengel schon erwarten, fand die Pferdeschnauzige. Der Junge, der gewohnt war, beim Essen zu lesen, hörte dem irren Gefasel der Zwangsmaske zu und verstand nicht, was von ihm erwartet wurde. Ihm graute vor ihr, oder vielmehr vor dem, was er hinter der Teigfassade nicht wusste, aber fühlte. Vor allem fühlte er den nadelstechenden Blick, den kannte er. Blick aus wasserblauen Augen, Augen eines verwesenden Fisches. Die Pferdeschnauzige sah, wie er sich wand vor Befangenheit, sah die Ratlosigkeit sah die erwartende Angst in seinem Spähen, und schrieb alles ihrer Größe zu.

Der ist überwältigt von mir, frohlockte sie.

Sie brauchte einen Ersatz für das Ganzstiefelvieh, man war immerhin zwölf Jahre verheiratet gewesen, vierzehn war der Junge jetzt, das Viehfleisch der Pferdeschnauzigen fühlte den werdenden Mann in dem Kind, ein Anfang war gemacht.

Und wenn der Junge hinaus in die Küche zum Abendbrot kommen sollte, geschah es ihm, dass er an die Sylphide dachte und anfing zu weinen.

Dachte an Licht und Hoffnung und an Richtigkeit und Heiligkeit, dachte an das wirkliche Leben und an Güte und Vertrauen und Schönheit und Wahrheit.

Also an all die Dinge, über die das Hochgeleucht bloß grinsen kann.

Alles vereinigt in der Sylphide.

Sie war irgendwo, nicht hier. Er war hier, und die Sylphide war irgendwo. Irgendwo war das Glück, und dort war er nicht. Würde er hinkommen, wo jetzt gerade, in diesem Augenblick, das Glück war, würde es schon weitergewandert sein.

Das Herz riss ihm mitten entzwei, der Schmerz nahm ihm die Luft, draußen war nicht die Sylphide, draußen war die Pferdeschnauzige, die wartete auf ihn, und er weinte.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 24.12.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)