Der Junge verstand Bilder niemals als etwas anderes, der Junge verstand alles Sichtbare immer nur als Illustration. Illustration eines darunter oder dahinter wartenden Textes. Ganz klar, der Text war das Eigentliche. Wenn er irgendwo ein Bild sah, der Junge, flitzten seine Blicke alsgleich suchend nach dem Text, der irgendwo verborgen sein musste. Bilder waren Hinweise, Hinweise auf Texte. Erschien irgendwo ein Bild, so sagte es: Hier ist ein Text. Such den, finde den. Eigentlich waren die Inhalte der Bilder dem Jungen ganz egal. Bildinhalte bedeuteten gar nichts. Ein Bild, das war etwas Glänzendes, Buntes, war einfach ein Signal, aufgepflanzt dem Wanderer zu sagen: Hier kommt ein Text.
Und nach dem Text suchte er, nach dem Text drehte er sich um.
Dem Geander waren die Bilder das Um und Auf, dem Geander waren die Bilder das Eigentliche. Sie sahen sich die Bilder an, und die Inhalte sprangen ihnen ins Gesicht. Wie auch anders? Wer etwas mitzuteilen hatte, orientierte sich am Geander, und brachte, was er zu sagen hatte, in den Bildern unter. Wenn ein Politiker dem Geander etwas sagen wollte, so war der Inhalt in aller Regel höchst simpel, zum Beispiel: Ich bin Großmächtig. Und diesen Inhalt galt es zu transportieren, durch die Farben des Auftritts, durch die geschwellte Brust, durch den stählernen Blick, die aufgepumpten Importanzbacken. Es gab auch etwas zu sagen, es gab Text, der Politiker bewegte das Maul wie ein Frosch. Niemand hörte zu. Das war der Text, der Text zum Bild, wen interessieren Texte.
Den Jungen interessierten die Texte, er hörte zu. Er schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln. Wenn er sich überhaupt um die Worte von Politikern kümmerte, so las er sie gern nach, in gedruckter Form. Unter dem gedruckten Text stand dann oft: Es gilt das gesprochene Wort. Ja, aber dem hörte doch sowieso niemand zu?
Zuweilen fanden sich in den gedruckten Texten Worte, die die Zielautomatik der erigierten Zeigefinger auslösten. Da wurde dann nachgelesen, und es hieß: Hat der aber doch so gar nicht gesagt … Nützte dann auch nichts mehr. Es galt das gesprochene Wort, empört wurde den Bedenklichen entgegengehalten: Aber der hat wirklich da gestanden und geredet, und die elektronischen Spielzeuge zeigten unwiderleglich das schnappende Froschmaul, und alle hörten, was der gar nicht sagte, es nützte nichts, die Bilder hundertmal zu zeigen, im Gegenteil, jede neue Wiederholung befestigte die Gewissheit: Da, seht doch hin, da sagt er es.
Er sagte es nicht, definitiv nicht, aber sie hörten nicht hin, sie sahen hin, und sahen, was ihnen gesagt worden war.
Von der Zinnenkrone höchster Ämter purzelten sie herab wie Kasperlepuppen, in der Folge solcher Bildbeweise, und der Junge sah sich die Bilder nicht an, sondern las die Texte, und schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln.
In seinen Altersjahren kam es dahin, dass die elektronischen Spielzeuge Ansprachen von Großmächtigen gleich als Bildaufnahme weitertransportierten, Druckfassungen gab es oft nicht einmal mehr. Der Junge nahm die Bilder dann nicht zur Kenntnis, nicht aus Eigensinn, sondern weil ihm Bilder eben als Illustrationen galten, und nicht als das Eigentliche.
Ihr dürft annehmen, er empfand die ganze sichtbare Welt als Illustration zu einem Text, den er eines Tages noch zu finden hoffte.
Und der Text, der würde das Eigentliche sein.
Das Eigentliche.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 20.12.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)