Bildlegende

Der Junge kämpfte mit diesem Unfall sein ganzes Leben lang. Er wusste nicht einmal, ob es sich bei der Sache wirklich um einen Unfall handle, und nicht etwa um seine richtige Einsicht in das, was der Fall war. Das Geander lachte über ihn, und er verachtete das Geander, beide genau des nämlichen Sachverhalts wegen. Das Geander glotzte auf die Bilder, bestarrte die Bilder, hatte ein unendliches Gefallen an den Bildern, liebte die Bilder mit echter Leidenschaft, zentrierte das Leben rund um die Bilder. Es war nicht so, dass der Junge kein Verständnis dafür gehabt hätte. Er liebte die Bilder ja auch, vor allem, wenn hübsche Frauen darin vorkamen. Aber er hielt sie nicht für das Eigentliche (die Bilder, die hübschen Frauen schon). Das Geander hielt die Bilder für das Eigentliche, weil das Geander das Sichtbare für das Eigentliche hielt. Für den Jungen war das Sichtbare nur das Vorgeschobene, alles Sichtbare galt ihm als Vorhang, der ein Dahinter verbarg. Er wusste, auf die Vorhänge waren gern Sinnbilder gemalt, Hinweise schenkend, was hinter dem Vorhang wartete, aber das Dahinter des Vorhangs, das war doch wohl das Eigentliche? Wenn er irgendwo Texte fand, galten ihm diese Texte als das Eigentliche, und waren den Texten Bildern beigegeben, las er, wie ich sagte, zuerst die Texte. Und nachdem er den Text gelesen hatte, betrachtete er auch noch, mit schon nachlassendem Interesse, das beigegebene Bild. Das beigegebene Bild galt ihm als Zusatz, als Illustration für den darunterstehenden Text. Für alles Geander verhielt sich die Sachlage genau umgekehrt. Dem Geander galten die Bilder als das Eigentliche, das sah man ja schon daran, dass sie immer oben standen, dass sie in den Blick sprangen, dass sie anschaulich waren, dass sie ganz selbstverständlich die Aufmerksamkeit gefangen nahmen. Die Bilder sind das Eigentliche, wusste das Geander, das ist doch ganz klar, ach so, da steht auch noch ein Text drunter? Ja, aber da steht doch sowieso bloß drin, was man in dem Bild doch sieht! Ist der Text vielleicht dazu da, dass man ihn einem Blinden vorliest, einem, der das Bild nicht sehen kann?

Ihr versteht das Dilemma, ihr versteht die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes, ihr versteht die resultierende Sprachlosigkeit. Dem Geander galten die Bilder, galt das Sichtbare als das Eigentliche der Welt, dem Jungen galten die Bilder nur als unverbindliche Illustrationen für einen zugrunde liegenden Text, und der Text war das Eigentliche, der Text war das Gültige.

Seit ihrer Erstedition waren den Romanen des Unnachahmlichen immer Bilder beigegeben worden, und richtig stand auf allen Titelblättern: Mit Illustrationen von — , und dann folgten die Namen der Illustratoren. Zuweilen stand auch zu lesen: Mit den Originalillustrationen, dann handelte es sich um die Illustrationen der Künstler, die mit dem Unnachahmlichen noch selbst zusammengearbeitet hatten und seinen Anweisungen gefolgt waren. Aber jedes Jahrzehnt nach dem Tod des Unnachahmlichen hatte neue Grafiker auf den Plan gerufen, die sich von seinen Werken angezogen gefühlt hatten und sie neu illustrierten.

Was galt, was allein Geltung hatte, waren die Texte, darüber war der Junge sich nicht im Zweifel. Die Sache litt gar keinen Zweifel. Wie gekonnt auch die Illustrationen sein mochten, sie alterten regelmäßig schnell, waren auf einen Blick ihrem Ursprungsjahrzehnt zuzuordnen, indes die Texte des Unnachahmlichen mit jedem Tag frischer wurden. Im Alter zog der Junge vor, die Werke des Unnachahmlichen in reinen Textausgaben zu lesen, da er die beigegebenen Illustrationen ablenkend fand. Die Illustrationen hatten ihre eigene Suggestionskraft, und es gab eine Kritik an den Werken des Unnachahmlichen, die bei Lichte besehen eigentlich die Untugenden der alten Illustrationen meinten. Die Kritiker waren schlichte Gemüter, wie es Kritiker ja eigentlich immer sind, und sie erlagen der Suggestionskraft der Bilder. Die Suggestionskraft der Bilder hatte solchen Sog, dass die Kritiker in den Texten zu lesen meinten, was ihnen doch durch die Illustrationen nur suggeriert worden war. So manche gängig gehörte Kritik, gerade die am häufigsten gehörte, zum Beispiel, die Personen des Unnachahmlichen seinen gar keine Charaktere, sondern Karikaturen, bezog sich, abgesehen von ihrem höchst zweifelhaften Geltungsgrund, ganz offensichtlich auf die alten Illustrationen, auf denen, dem Zeitgeschmack folgend, in der Tat das Karikaturistische obwaltete. Die damaligen Leser hatten das gemocht, die grotesk übersteigerten Bilder hatten den Verkauf der Bücher beschleunigt, und auf die Auflage, auf die sah der Unnachahmliche, er hatte eine Familie mit zehn Kindern zu ernähren, und später auch noch eine süße junge Geliebte, und deren Mutter, da musste Geld ins Haus, so nickte er den Abdruck der Illustrationen auch für die Folgeauflagen ab. Waren deshalb die Bilder das Eigentliche?

Die Bilder waren Illustrationen, der Text war das Eigentliche.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 18.12.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)