Er musste den richtigen Bus besteigen. Die Liniennummer stand vorne am Bus nur, wenn er Glück hatte. Zielort des Busses eigentlich nie. Den Fahrer fragen? Unverschämtheit. Jedes Ansprechen des Fahrers war Unverschämtheit. Einen der Wartenden fragen, an der Haltestelle? Traute sich der Junge nicht, kein Gedanke. Drei Busse kamen zur fraglichen Frühzeit kurz hintereinander, in unvorhersehbarer Reihenfolge, alle drei überfüllt zum Platzen, reindrängen! mitkommen! sich nicht abhängen lassen! Die Warter an der Haltestelle wussten überraschenderweise genau, in welchen Bus sie einsteigen mussten, woran erkannten die das? wie machten die das?
Dann war die Sturzflut gekommen, die Sylphide war gekommen, der Junge sah nicht hin, die Verliebtheit quälte sein Herz wie die Schrauben eines Folterinstruments, drehend und zerrend und tordierend, und er traute sich nicht, das ferne Wesen anzusehen. Wie konnte er verliebt in sie sein und nicht einmal wissen, wie sie aussah? Oh, er wusste das, sie war schöner als die Sonne, leichter als der Sommerwind, in ihrem Haar spielten die Wolken vor Osten. Er wusste das. Er wusste nun immerhin, wenn er sie im Augenwinkel behielt und in den gleichen Bus einstieg, würde er am rechten Ziel ankommen. Würde vielleicht eine Haltestelle zu spät aussteigen, da an der richtigen Haltestelle er plötzlich seine Glieder gelähmt fühlen würde vor Peinlichkeit wie Holz, jetzt muss ich mich bewegen, jetzt mich zur Tür drängen, zur hydraulisch schnaufenden Tür des Busses, da merken die doch alle auf, da gucken die doch alle hin, da gucken die doch alle zu, wie ich zu der Tür gehe, da sehen die, wie ich meine Tasche hebe, beobachten genau, wie ich einen Fuß vor den anderen setze, die Peinlichkeit!
Und da die beobachten, wie ich einen Fuß setze vor den anderen, werden mir die Blicke ein Bein stellen, und ich werde stolpern, und die werden zugucken, einfach schweigend zugucken, und aus dem Irgendwo wird eine kommentierende Stimme sagen, schafft es nicht einmal, richtig zu laufen, und kommt hierher und spielt sich auf, und alle werden das hören, schweigend, keiner wird widersprechen. Vielleicht wird dann, bevor ich mich endlich berappeln könnte, die Tür wieder zugehen und der Bus wird weiterfahren, und alle werden gucken, in mein Gesicht rein, oppma oppmawassieht! oppmawassieht im Gesicht!
Er schaffte es dennoch jeden Tag, der Junge, in den Bus reinzukommen, öfter sogar in den richtigen, und ungefähr an der richtigen Haltestelle wieder auszusteigen.
Jedes Mal eine gewonnene Schlacht, aber der Aufwand so hoch, dass der Sinn des Sieges fraglich blieb.
Was die anderen Fahrgäste anbelangte und ihre unheimliche Fähigkeit, den richtigen Bus auszumitteln, so ist anzunehmen, die präsumtiven Passagiere ihrer jeweiligen Busse kannten aus langer Erfahrung die Gesichter der Fahrgäste, die schon drinnen waren in dem richtigen Vehikel, kannten vielleicht sogar die Gesichter der Fahrer, und brauchten also keine Beschriftung, der Junge verstand das nie, für ihn war Beschriftung das Um und Auf der Dinge, war ein Ding beschriftet, so las er die Beschriftung immer zuerst, er las selbst in den Büchern und in den Zeitungen die Legenden unter den Bildern zuerst und betrachtete die Bilder erst dann, während die Fahrgäste die Beschriftung der Busse nicht einmal dann gelesen hätten, wenn eine dagewesen wäre, genau gesagt, sie hätten nicht einmal bemerkt, dass da vorne was dransteht was draufsteht, und es hätte gut sein können, dass das Schild eine völlig falsche Fahrtrichtung angegeben hätte, vielleicht übriggeblieben von einer früheren Fahrt, ist doch völlig egal, würde der Fahrer sagen, das liest doch sowieso keiner, aber der Junge las, und würde also in den falschen Bus einsteigen, während die nichtlesenden und das Schild vielleicht nicht einmal bemerkenden Fahrgäste ihr richtiges Vehikel finden würden wie im Traum.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 16.12.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)