Vertrauensperson

Ganz ernsthaft, der Junge wusste nicht, was das sein solle, eine Person seines Vertrauens. Er hatte ungefähr eine Vorstellung davon, was eine Person sei, die Romane des Unnachahmlichen waren bevölkert von Personen, in seiner Umgebung war er noch keiner begegnet. Da waren Leute Maschinen Masken. Er war romantisch genug, zum Beispiel von einem Klaviermeister auf dem Podium zu denken, dieser sei eine Person. Da er den Meister niemals persönlich kennenlernte, blieb ihm die Illusion in der Regel erhalten. Auch jeder hübschen Sängerin auf der Bühne, in die er sich alsgleich verliebte, in buchstäblich jede, seiner Benommenheit von der Sylphide zum Trotz, gab er diesen Vorschussglauben, auch hier blieb er vor Ernüchterungen zuverlässig bewahrt. Personen begegneten ihm auch auf der Leinwand. Personen im Fokus. Er saß in den Nachmittagsvorstellungen der Kinos, so gut wie allein, und starrte hinauf zur Leinwand, er konnte sich nur einen billigen Platz leisten, billige Plätze in den Kinos waren die ganz vorne, im Unterschied zu den billigen Plätzen in den Konzertsälen, das waren die ganz hinten. Wenn man im Kino ganz vorne saß, eigentlich nicht vor, sondern unter der Leinwand, musste man den Kopf in den Nacken legen und hinaufblicken. Der Junge liebte das, die Leinwand war riesig aus solcher Perspektive, füllte aus alle Horizonte, und er verschwand in der Geschichte, sauste durch alle Wendungen und Abenteuer im gleichen Puls mit der allgegenwärtigen Kamera. Kamera, die alles sah die alles beobachtete. Kamera körperlos. So körperlos wie die Allgegenwart des Autors in einem Roman. Kamera schwerelos. Kamera fliegend wie die Vögel, fliegend wie ein ortloser Geist. Kamera schlüpfend in die kleinsten Löcher, sanft-ängstlichem Gewürm hinterher, verborgenheitsliebendem. Kamera, der kein Berg zu hoch war kein Planet zu fern. Verliebte Kamera, sich anschmiegend wie eine schläfrige Katze. Kamera, feindselig starrend. Wie auch immer, auf der Leinwand begegnete der Junge Personen. Personen, die er faszinierend fand. In seiner Gegenwart war er noch nie einer Person begegnet, höchstens solchen, die man im älteren Theater als „komische Person“ bezeichnet hätte. Ich habe schon kurz davon gesprochen, dass im Theater der alten Zeit, der Zeit vor dem Jahrhundert des Unnachahmlichen, die komischen Personen die waren, so niedrig standen auf der gesellschaftlichen Stufenleiter, wie sie allem menschlichen Leben als naturgegeben imputiert wurde. Der freche Bettler, die greinende Alte, der Schweinehirt, die Bordellwirtin, der Säufer, der namenlose Soldat, der schlechtbezahlte Nachhilfelehrer: das waren komische Personen. Denen begegnete der Junge auch in seiner Wirklichkeit, nur waren sie dort nicht komisch, sondern stets bereit zuzuschlagen, was er schnell verstanden hatte. Seiner Natur entsprechend hatte er dann zwar gelernt, sich beizeiten wegzuducken, nicht aber, die Sache wegzustecken. Er nahm Zeit seines Lebens an, dass die komischen Personen wirkliche Personen zu sein hätten, und quittierte die Entdeckung, dass sie es nicht waren, sondern Schläger und Mörder und Halunken, mit einer Mischung aus Wehmut und Hoffnung. Die Wehmut versteht sich von selbst, und die Hoffnung sagte: Sieh nur genauer hin, die haben ein schlechtes Leben gehabt, die sind bloß verbittert, und wenn sie dir ins Gesicht schlagen, dann doch bloß deshalb, weil sie was Falsches von dir denken, auf Grund eines Missverständnisses.

Von seinem unbeirrbaren Glauben, dass alles bloß ein Missverständnis sei, habe ich schon geredet.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 10.12.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)