SIE

Wiewohl er seiner Naivität niemals Herr wurde, in keinem seiner Leben, verstand der Junge doch, über gewisse Dinge eisern zu schweigen. Über SIE. Über SIE schweige zuerst, flüsterte das warnende Stimmchen in seiner Herzgrube. Über den Unnachahmlichen. Über die Sylphide. Über den Glanz hinter den Horizonten.

Du musst Vertrauen haben! versicherte das Geander, und hinter den Schnauzen sah der Junge schaukeln das körperlose Grinsen in den Winterästen, und wenn er zu Boden blickte, sah er, das Geander stand nicht auf natürlichem Grund, das Geander stand auf befestigter Marschstraße, und die Trasse lagerte auf verbackenem Gegrins.

Sie grinsten über alles. Und der Junge wusste, was immer mir kostbar ist und gut, was immer mir wertvoll ist, was immer mir heilig ist: sie werden darüber grinsen. Sie werden mich einladen, doch darüber zu reden, sie werden mich herausfordern, aber so offenbare dich doch, du Junge, sonst wissen wir ja gar nicht, was in dir vor sich geht: und wäre ich so dumm und offenbarte mich, würde anheben das Grinsen.

Lodern würden die grinsenden Blicke, lodern im Triumph, jetzt! jetzt haben wir den soweit, den Arsch den Doofen den Blöden, jetzt lässt ers raus, so blöd kann auch nur der sein, jetzt haben wir was in der Hand gegen den, Beweis gegen den, hat der selber beigebracht, hat der uns selber in die Hand gegeben, das Beweismaterial!

Und die fetzenden Triumphblicke würden, noch während der Junge redete in der Dummheit seines Vertrauens, flitzend über die Schulter gehen, nach dem Verback des Geanders, wo seid ihr denn alle, kommt her, ihr müsst das unbedingt hören, was der da rausgelassen hat, der Arsch, ihr lacht euch krumm ihr lacht euch scheckig!

Schweige, mein Kind, sagte die Vorsicht, schweige über alles, was dir wichtig ist, schweige über alles, was dir heilig ist.

Und über seine Aufmarschstraßen aus Gegrins schritt das grinsende Geander von Sieg zu Sieg, und das körperlose Grinsen hing in den Ästen aller Erstorbenheiten, so sahen die geistigen Landschaften aus zu Lebzeiten des Jungen.

Der Junge dachte nach, über die gewundenen Wege, über die gebahnten Wege, über die geraden Wege. Über die Wege, die zum Sieg, und die Wege, die zur Wahrheit führen.

Er erkannte: Siegen, das ist das Merkmal der Niedrigen. Den Niedrigen gilt der Sieg als Ausweis ihrer Richtigkeit. Sie brauchen keinen anderen. Sie sagen: Wir haben doch gesiegt, oder? Also sind wir auch die Richtigen.

Er dachte: Ich hab die gewundenen Wege geliebt, immer. Die gewundenen Wege hinein ins Dahinter der Bibliotheken, die Wege hinein ins Dahinter der bedruckten Seiten, die Wege hinein ins Unvorhersehbare. Weg war für mich immer Weg ins Unbekannte hinein. Wohin führt dieser Weg? Den hat doch jemand gebaut! Nicht immer. Da sind die Tierpfade, und die natürlichen Falten im Gelände. Die kletternden und holpernden Steige, die Bachufer entlang. Die gebahnten Flächen im Ufersand der Seen. Den Meeresstrand entlang.

Wege.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 02.12.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)