Am Wegrand stand eine alte Linde.
Weit war die Krone gebreitet, mit den herzförmigen Blättern, wispernd und hell. Der Wind spielte im Geäst, das gab ein währendes Rauschen, und unten am Stamm war es kühl und gut, im Lindenschatten.
Hier rasteten sie.
„Die Sonne meint es wirklich gut“, sagte Grand Mère und stöhnte, alle hatten sie das schon gesagt, aber dadurch wird ein richtiger Satz nicht falsch.
Sie hatten angehalten, die Ochsen getränkt, sie hatten gegessen, und nun ruhten sie. Vorbei war die Übermüdung des Morgens, es blieb nur eine leichte Schlaffheit, die war der Hitze zuzuschreiben, und dem weiten Weg im Wald, des Abends würden sie früh die Reise unterbrechen, Pilze sammeln, lange um das Feuer sitzen, wenig reden, und dann schlafen, ausgiebig, fest, auch die Ochsen würden dankbar sein für eine gute Ruhe.
Eluard schlenderte auf dem Weg hin und her, er begann, diese Angewohnheit des auf und ab Gehens zu entwickeln, dieses Zeugnis der Unruhe, der Gespanntheit.
Waldemar schlief schon wieder, er war ganz aus dem Rhythmus geworfen, dem ruhigen Gleichmaß der Tage, er schlief, die Beine angezogen, den Kopf in Magdalenas Schoß, und Magdalena hatte den Arm über ihn gelegt.
Still war der Wald, keine Vogelrufe, nicht das Klopfen eines Spechts, nicht die lockenden Terzen des Kuckucks.
Sonnenglast auf den Baumkronen.
„Ich geh ein bisschen in den Wald hinein“, sagte Eluard leise.
„Ja …“ antwortete Aslan, mit einem gewissen Missbehagen. „Wenn du es gerne möchtest … aber geh nur so weit, dass du uns noch hören kannst, ich bitte dich …“
„Ja“, nickte Eluard.
Inge blickte auf, als er vorüberging, und lächelte, aber sie sagte nichts.
Also drang er ein in den Wald. Gesträuch stand am Weg, er schob die dünnen Zweige beiseite mit den Armen, fühlte, wie ihm die Blätter über das Gesicht wischten, sie rochen nach Grün, satt schon von Sommer und der Nähe des Herbstes.
Dichte, modernde Schicht von Laub unter den Füßen.
Eluard trat vorsichtig auf, es war ihm unheimlich, und trotzdem wollte er hinein in den Wald, er wusste nicht, warum.
Kühl war es hier, dunkel und schweigend die hohen Baumstämme, wenig Unterholz, nur das morsche Knacken herabgefallener Äste und Zweige. Durch das Blätterdach fielen Sonnenflecke, spielten unruhig auf dem Boden, in wirren Schatten. An den Stämmen wuchs Moos, in dicken Polstern, voll grünen Dämmers.
Manchmal knarrte es in den Baumriesen, wenn ein leichter Wind die Äste bewegte, dann rauschten die Blätter, einförmig, aber gleich war es wieder still.
Eluard drang weiter vor, mit angehaltenem Atem, er fühlte sich sehr allein, einmal drehte er sich um, nach dem Lagerplatz, aber er konnte nichts mehr von ihm sehen.
Drüben, zwischen den dunklen Baumsäulen, leuchtete es heller hervor, ein weiches Grün.
Eluard ging darauf zu, etwas unsicher die Schritte setzend auf dem nachgiebigen, knisternden Waldboden. Pilze wuchsen hier reichlich, sah er im Gehen, und auch die dünnen Stängel des Waldmeisters, mit den seltsamen, stiellosen Blättersternen.
Er musste über einen flachen Graben klettern, der schlängelte sich zwischen den Bäumen durch, vielleicht ein versiegter Bach, dann hatte er die helle Stelle erreicht, zwischen den Ästen sah er den blauen Himmel.
Er schob mit den Armen die Büsche auseinander, da wurde es hell um ihn, gleißend hell, und er stand im Freien.
Eine ausgedehnte Lichtung. Dichtes, wogendes Gras, und die schwankenden, mannshohen Obelisken der Königskerzen, spitz emporstarrend in die Luft, buschig blätterumrundet am Schaft.
Gebannt trat Eluard hinaus auf die Wiese, alsgleich umfing ihn die Mittagshitze, schweigend, dicht. Undeutliches Summen zwischen den Pflanzen, schläfrig träger Laut.
Weit ging Eluard hinaus, er fühlte die Sonne ihn umfluten, Wärme strahlte zurück von dem trockenen Boden, von den Gräsern und Kräutern, grell und golden war die Luft.
Plötzlich stand er mitten auf der Wiese, umrundet von Sonnenglast, er hatte gar nicht so weit gehen wollen.
Zitternd hob er die Hand, beschattete die Augen. Die Luft flimmerte und waberte, er sah undeutliche Bewegungen. Hinter ihm knackte es.
Er fühlte, wie sich ihm die Härchen im Nacken sträubten. Sollte er sich umdrehen?
Er konnte nicht. Hitze, flutende Glut, wabernder Glast.
Feine Schweißtröpfchen perlten ihm über die Stirn, rannen in die Augenbrauen.
Drüben, zwischen der Schattenmauer der Bäume, regte es sich gemächlich, die Blätter flirrten und rieselten, dann kam eine Gestalt hervor, ging ruhig schräg über die Wiese, von rechts nach links an Eluard vorbei.
Gebückt, und doch riesig.
Ein Mann, mit gewaltigen Schultern, wirr und struppig hingen ihm Bart und Haare um den Kopf, eine zottige Mähne.
Dichtkräuselig behaart Brust und Rücken, auch die Arme, die hängenden Arme, ruhig schwangen sie im Takt der Schritte.
Die braunen, mächtigen Bocksbeine traten lautlos auf, mit spreizenden Hufen.
Zwischen den Beinen der strotzende Beutel, groß und rund wie ein Kinderkopf, darin die huschend gleitende Zwiegestalt, sachte sich abzeichnend bei jedem Schritt.
Darüber die Keule, fast waagerecht abstehend vom Körper, stemmeisenlang, zottig schwarzbehaart der armdicke Schaft, frei die kugelig entblößte Krone, zornrot leuchtende Blüte aus Fleisch.
Gebückt schob sich die Gestalt an Eluard vorbei, ohne ihn zu beachten. Zipfelig spitz die Ohren. Vom Steiß herabhängend ein glatter schwarzer Schwanz, mündend in eine wellige Quaste.
Verschwand zwischen den Bäumen.
Eine Weile stand Eluard, die Hand noch immer beschattend über die Augen gehoben.
Dann drehte er sich auf der Ferse um und rannte davon, rannte den Weg zurück, den er gekommen war, ohne sich noch einmal umzusehen.
[…]
„Wo Eluard nur bleibt …“ murmelte Inge schläfrig.
Eluard trat zwischen den Stämmen hervor.
„Da bist du wieder …“ sagte Inge und richtete sich auf, sie hatte halb gelegen, gegen den Lindenstamm gelehnt.
„Ja“, antwortete Eluard und trat hinein in den Schatten, wo die anderen lagen.
„Was Besonderes gesehen?“ fragte Inge weiter, nicht aus Interesse, sie wollte nur ein bisschen schwätzen …
„Nein“, sagte Eluard. „Halt Wald …“
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 15.11.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)