Wir sind noch lange nicht fertig! wussten die Wecker. Sie behaupten, über das Hochgeleucht Verbindliches ausgesagt zu haben, mit ihren Behauptungen.
Tatsachen sprechen immer ihre eigene Sprache, sagte der Brillante. Sie reden laut, entsetzlich laut, man hört sie noch nach zweihundertfünfzig Jahren. Mit Tatsachen ist schwer zu diskutieren, sie sind. Behauptungen kann man wegdisputieren, Tatsachen nicht.
Das ist ja die Frage, sagten die Wecker. Sind das wirklich Tatsachen, was Sie da ausbreiten?
Ich warte mit großem Interesse auf Ihre Veröffentlichungen, sagte der Brillante, auf Ihre Veröffentlichungen, die alles widerlegen.
Wir wollen das ja gar nicht widerlegen, sagten die Wecker. Aber der Blick in die Geschichte verlangt immer auch den Blick auf die Folgen, auf das Fruchtbare, das Zukunftsweisende! Gräuelgeschichten! Natürlich können Sie alle Menschheitsgeschichte als Gräuelgeschichte schreiben. Alle! Aber was bedeutet das? Es hat doch Fortschritt gegeben, unstrittig. Was ist da wichtig, die menschlichen Verfehlungen, ja, okay, die Schweinereien, die es immer gegeben hat, oder die großen Wegweisungen, die die ganze Menschheit weitergebracht haben? Und um die geht es!
In welchen Traumländern Sie sich bewegen! sagte der Brillante kopfschüttelnd. In der Geschichte geht es immer um das, was wirklich geschehen ist. Um die wirkliche, die zeigbare Untat. Um die wirklichen Tränen, die niemand getrocknet hat. Was wollen Sie eigentlich? Die hohlen Sprüche zum Eigentlichen erklären? Sie wollen Ursache und Wirkung nach Belieben manipulieren. Da hat einer hohle Sprüche geklopft, da hat eine Bande von Vergewaltigern und Kinderschändern Proklamationen herausgebrüllt, und nun behaupten sie einfach, das Brüllen dieser Proklamationen sei ernsthaft die Ursache dafür gewesen, dass nachher, viel später, im Lande die Redefreiheit in Brauch kam. Aber die Redefreiheit kam in Brauch, da waren die Revolutionsbrüller schon lange tot, ziemlich kopflos, waren unter ihr eigenes Hackebeil geraten, und wie genau hatten die es eigentlich genommen, solange ihnen noch der Kopf auf den Schultern saß, wie genau hatten die es eigentlich genommen mit der Redefreiheit! Nein, nicht ihrer eigenen! Welchen anständigen Menschen hätte je die eigene Redefreiheit interessiert? Die Redefreiheit der anderen, der Gegner! Wie genau haben die es mit der genommen, die Hocherweckten? Und Sie behaupten einfach, weil die von Menschenrechten schwadroniert haben, hätten sie den Nachfahren zu Menschenrechten verholfen! Aber das Schwadronieren zählt nicht, was zählt, ist das Leiden der Opfer. Wenn wir wirklich hocherweckt sein wollen, und das fordern Sie ja, wenn wir wirklich hocherweckt sein wollen, dann müssen wir uns dem Leiden der Opfer stellen. Das waren alles Menschen. Manche schuldig, manche unschuldig, gut oder böse, schwarz oder weiß, wen interessiert das. Was mich interessiert, ist das Leiden. Ist der Kummer. Sind die Tränen. Die wortlose Verzweiflung. Die Demütigungen, die niemals gerächt und niemals vergessen wurden. Die Täter haben immer gut geschlafen, die ganze beschissene Menschheitsgeschichte entlang, und die Opfer haben wach im Bett gesessen und geweint. Wenn sie denn noch das nackte Leben davongerettet hatten. Die Geschichte ist voll von Massengräbern, und die Errungenschaften der Revolution haben erst so recht die Massengräber gefüllt. Ja, von denen lasst uns reden! Von denen, die in den Massengräbern liegen und nie eine Stimme hatten! Die Brüller der Proklamationen sorgen immer dafür, dass sie gehört werden, einfach schon durch ihr Gebrüll, und dass auch nach ihrem Tode noch von ihnen geredet wird, wieder, weil sie ja so gebrüllt haben, da muss man doch einfach von denen reden! Aber nein, die haben das nicht verdient, dass von ihnen geredet wird. Die vergewaltigten Frauen haben es verdient, dass von ihnen geredet wird. Die geschändeten Kinder in den Gefängnissen haben es verdient, dass ihnen Denkmäler gesetzt werden. Nicht die brüllenden Köter, die sich schon zu Lebzeiten ins Rampenlicht geschoben haben, nicht die brüllenden Köter, für die die Welt immer nur eine Bühne immer nur ein Schauspiel waren, mit ihnen selber in der grölenden Hauptrolle, immer ganz vorne an der Rampe. Nein! Lasst uns von den Opfern reden. Redefreiheit! Das ist, was ich unter Redefreiheit verstehe! Den stummen Opfern die Zunge entbinden! Wir kommen erst dann zu einer rechten und richtigen Sicht der Geschichte, wenn wir die Geschichte als Geschichte der Opfer schreiben. Geschichte als Geschichte dessen, was erlitten worden ist. Geschichte als Geschichte dessen, was zu erzählen sich die Opfer geschämt haben! Erzählen wir es! Ja! Predigen wir nicht nur Redefreiheit, praktizieren wir Redefreiheit! Betreiben wir Redefreiheit! Geben wir den Opfern die Freiheit der Rede zurück, und hören wir ihnen zu! Setzen wir uns zusammen und lauschen den Opfern, den Geschändeten, lauschen wir denen, die unter die Räder kamen! Die brüllenden Mäuler haben ihre Stunde gehabt, sie haben sie übel genutzt, indem sie auf Kosten anderer gelebt und gebrüllt haben. Statt dem Leben zu helfen, haben sie vom Leben schmarotzt! Und denen sollen wir Denkmäler setzen? Setzen wir den Opfern Denkmäler, ihrer Geduld, ihrer Beharrlichkeit, ihrer Standhaftigkeit im aussichtslosen Leiden! Wer kann uns Vorbild sein? Die lügenden Brüller, die Redefreiheit predigen und die gurgelnden Schreie ihrer Opfer ersticken, oder die Opfer, die gelitten haben, ohne jemals ihre Würde zu verlieren? Menschenwürde! Wer hat denn regelmäßig seine Würde verloren in der Menschheitsgeschichte? Die Täter oder die Opfer? Ich sage, die Opfer haben niemals ihre Würde verloren, niemals hat einer dadurch seine Würde verloren, dass er unter die Räder geriet. Aber die Täter, die haben ihre Würde verloren! Indem sie unschuldiges Leben in die Massengräber traten! Indem sie sich als moralischer Dreck offenbarten! Ja, ich habe diese Revolutionshelden demontiert. Aber nicht, indem ich ihnen Lügen um den Hals gehängt habe, wie sie es mit ihren Gegnern taten. Sondern indem ich ihnen gewissenhaft die Wahrheit hinterherredete. Wenn die Wahrheit jetzt ihre Schande ist, ist genau das nicht der Fortschritt, den wir alle wollen? Ist das nicht das das Licht des Hochgeleuchts? Des Hochgeleuchts, nach dem Sie so trommeln? Aufklärung über die Täter und die Opfer, haben Sie die je gewirkt? Haben Sie sich je hingestellt, an einem kalten Morgen, an diese alte Klosterpforte, und der Opfer gedacht, die dort massakriert worden sind? Haben Sie je am Ufer des Flusses gestanden und derer gedacht, die dort ertränkt wurden? Sollten Sie! Das wäre Hocherweck, nur das, und nichts sonst!
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 10.11.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)