Zeigefinger

Die Wecker mussten zum Schluss gar nicht mehr beweisen, dass ihre Denunziationen wirklich irgendetwas aussagten über den Bespitzelten den Bloßgestellten. Der bloße Gestus der Enthüllung genügte. Der ist auch bloß nackt unterm Hemd, und das Hemd, das ziehen wir dem jetzt aus.

Der Junge sah sich die geifernde Öffentlichkeit an und dachte, die ziehen einen Menschen nackt aus und stellen ihn ins Hohnfeuer, und sehen wirklich nicht mehr, dass das nichts und aber nichts über ihr Opfer aussagt, und alles über sie selbst?

Wer höhnend und hämend mit Fingern auf einen Falschen zeigt, wird damit selber nicht zum Richtigen.

Öffentliches Höhnen und Hämen ist untrügliches Indiz für angeborene sittliche und charakterliche Dreckförmigkeit, selbst dort, wo das Höhnen und Hämen sachlich berechtigt sein mag.

Wer höhnend und hämend mit Fingern auf einen bösen Menschen zeigt, wird damit nicht zu einem guten.

Alles öffentliche Entlarven ist Selbstaussage der Entlarver. Mit jedem Hohnschrei versichern sie lauter: wir sind Dreck.

Und das ist wirklich so, dachte der Junge. Ich weiß das, ich kann Zeugnis ablegen. Ihr seid Dreck.

Die Wecker gerieten in Frenesien des Entlarvens. Einmal die Dämme gebrochen, alle Gelände überflutet, wurde über die Geschäftsgrundlage des Freibeutertums gar nicht mehr geredet. Überall Sumpf! versicherten die Wecker, und da überall Sumpf ist, haben wir auch überall Zutritt.

Und wenn sie den Zutritt nicht hatten, verschafften sie ihn sich eben. Kein Haus, das noch vor ihnen sicher war, keine Tür, die sie draußen hielt.

Es gilt das Eigentliche!

Das Rauskriegen des Eigentlichen!

Sie durchforschten alle Menschheitsgeschichte, und der Ton ihres Lügens wurde immer frecher. Sie boten in ihren Kloakenblättern Einzelheiten als neugefundene Enthüllungen aus, die man schon in jahrhundertealten Enzyklopädien lesen konnte. Hat man jetzt rausgekriegt!

Dinge, die der Junge schon als Kind irgendwo gelesen und wieder vergessen hatte.

Hat man jetzt rausgekriegt!

Das Eigentliche!

Und immer galten die kleinen schmutzigen Geheimnisse, die niemals Geheimnisse waren, sondern in den Biographien vermerkte Tatsachen, den Weckern als das Eigentliche ihrer Opfer. Niemals war das Werk das Eigentliche, niemals die Leistung. Sondern die Verfehlung, die Niedrigkeit, das Vergehen. Oder auch einfach das Beiseitegelassene, das Verworfene, der Entwurf. Der unausgeführte Plan, die Idee, der Einfall. Alle die Notizen, veröffentlicht erst in den Anhangbänden der Werkausgaben, lange nach den Toden der Autoren: das Eigentliche. Das muss man sehen das muss man beachten, versicherten die Hocherweckten. Das ist das Eigentliche!

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 23.10.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)