Endlich stieg der Boden an, sacht und stetig, und der Wald war erreicht.
Aslan atmete auf, leichter ging es sich hier, auch war der Weg zu erkennen. Das Wasser überspülte dem Wanderer nur noch die Füße, es hatte vor einiger Zeit höher gestanden, an den Baumstämmen fanden sich Spuren, und im Gesträuch hingen Algenfäden, trocken wie Papier, die würden bald zerfallen, zu Staub.
Das morastige Wasser spritzte beim Hineintreten, als liefe man durch eine Pfütze.
[…]
Waldemar schlief, und die kleine schwarze Katze schlief auch, und Eluard saß wie vorher, mit dem Rücken gegen das Schlussbrett gelehnt, schräg, so dass er nur ein wenig den Kopf zu wenden brauchte, dann konnte er hinaussehen.
Er war müde, so müde, aber es wollte ihm nicht gelingen zu schlafen, Silben und Worte wirbelten in seinem Kopf herum, und wenn sie einen Augenblick zur Ruhe kamen, wurden sie gleich wieder geweckt durch das helle Plätschern der Wagenräder, listig, wie Silberfische stürzte es hervor, eilender Schwarm mit zuckendem Geschwänzel, und stießen tastend die Gedankentiere an, dass sie sich fortbewegten und fort und fort.
Seltsam war der Blick hinaus, das Wasser stand gerade noch fußhoch, aber weit gedehnt, so weit, es blitzte und spiegelte zwischen den Bäumen und Sträuchern wie ein tiefer See, unergründlich tief hätte es sein können, ebensowohl, mit grünen Dunkelwassern, wo das Licht kaum noch hinlangt des Tages, und geheime Geschöpfe schwimmen, mit schwerem Ruderschlag der Flossen, dass es heraufwehte aus dem Dunkel wie fremder Klang, der rief und sprach verwirrende Worte …
Eluard zitterte und zog sich einen Zipfel der Decke fester um die Beine, kühl war die Nacht unter dem klaren Mond, der spiegelte sich verliebt in dem sprühenden Schauer der Räder, der fortrollenden Räder …
Was wohl Lili gerade machte?
Er presste die Lippen zusammen, und dann fiel ihm das letzte Bild ein: wie Lili, die Stoffpuppe gegen die Brust gedrückt, sich über die am Boden liegende Frau Elisabeth gebeugt hatte … und das Entsetzen, das ihr dabei in den Augen stand.
Sie würde in den Turm gehen, dachte er, um sich zu trösten, sie würde in den Turm gehen und die Nachtgeschöpfe beobachten, die schweren Tiere aus Dunkelheut, die Nachtwale, wie sie sich badeten unter den Wolken, in den weiten Schluchten der Finsternis …
Aber heute war Vollmond, mit weißem, gleißendem Licht … vielleicht konnte man vom Turm aus die fernen Berge sehen, die Hügel, die so blau schimmerten unter der Sonne, und den weißen Weg.
Dann fiel ihm das Wort ein, das furchtbare Wort: nie mehr. Nie mehr würde er sie wiedersehen, die Welt war zu groß, man verlor sich darin, aber wenn man ging, so waren die Verlassenen doch trotzdem noch da, lebten, litten auch, was war da zu tun?
Nie mehr.
Ein drängendes Gefühl stieg auf in Eluard, es war, als müsse er die Welt umgreifen, die seltsame Welt, und sie in Schutz nehmen … Das war Mitleid, und das tat weh, und über dem Mitleid war Hilflosigkeit, hinter der wartete die Verzweiflung.
(Jenseits der Verzweiflung gibt es noch die Gleichgültigkeit, die macht den Schluss, aber das wusste Eluard damals noch nicht.)
Er stöhnte und streckte die Beine aus, und Waldemar erwachte halb, murmelte aus dem Schlaf, die kleine schwarze Katze rückte sich zurecht, sie piepste ein bisschen dabei, dann lagen sie wieder still.
Waldemar … an dem flossen die bunten Bilder der Fahrten vorüber, Tag legte sich zu Tag, Bild zu Bild, der leichte Strom der Blumen … Eluard fiel ein, dass sie nie über Lili geredet hatten, Waldemar hatte sie nur einmal erwähnt, da hatte er „das kleine Mädchen“ gesagt, wohl möglich, dass er schon ihren Namen vergessen hatte.
Und Eluard saß da, schaukelte hin und her mit dem schwankenden Wagen und grübelte, grübelte.
[…]
Endlich hob sich das Gelände, und trockener Grund war erreicht, der Weg wieder ein hartes, wohlbefestigtes Band im Dickicht der Wälder.
Weit schon war der Mond gesunken, das weiße Licht verlor zunehmend seine Kraft, wandelte sich zu milderem Gelb, und größer wurde das Gesicht, verwischter die Konturen.
Aslan saß wieder auf dem Kutschbock, Roger führte. Die geduldigen Ochsen folgten, unverdrossen, vieles ließen sie mit sich machen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 22.10.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)