Im Jahrhundert vor den Lebzeiten des Jungen wurde in den alten Städten des Kontinents gewaltig gebaut, die Stadtwälle wurden niedergerissen, um Platz zu schaffen, Platz hinaus ins Freie! alte Gemäuer wurden freigelegt, alte Unterkellerungen. In verschiedenen Städten fand man unter den Höfen aufgelassener Nonnenklöster große Mengen von Kinderknochen. Das Eigentliche! jubelten die Hocherweckten. Die Nonnen hatten heimlich Kinder geboren und sie im Hof verscharrt! Die Frauenklöster waren Bordelle! Das hat man jetzt rausgekriegt! Nützte gar nichts, dass die Lokalhistoriker hinwiesen auf die plane Wahrheit, die selbstverständlich bekannt war, dass nämlich in den alten Zeiten die eben geborenen Kinder oft gleich starben, so oft, dass man mit der Taufe gern ein paar Tage noch zuwartete, denn die Taufe kostete Geld, das die armen Menschen nicht hatten, wird das Kindlein morgen früh überhaupt noch atmen? fragten sie, wir warten noch, die Theologen waren sich aber uneins, ob ohne Taufe die Kinder in den Himmel kommen könnten, es gab auf den Friedhöfen abgetrennte Winkel, wo die Ungetauften verscharrt wurden, damit mochten sich nun die untröstlichen Eltern nicht einfach abfinden, gestorben das Kindlein, kaum dass es das Leben hatte, soll nun nicht wenigstens das Himmelreich ihm gehören? und so brachten sie den kleinen Leichnam zu den frommen Frauen, in der Hoffnung, vielleicht in der frohen Gewissheit, die kleinen Seelen möchten mit den Seelen der Heiligen hochsteigen in die Unsterblichkeit, am Tage der Auferstehung, so kam es zu dieser Häufung von Kindergebeinen in den Höfen der Nonnenklöster, und die Hocherweckten schrien johlend, alles jetzt rausgekommen, die Nonnen waren Huren, die Frauenklöster Bordelle.
Nehmt diesen Komponisten, wussten die Aufgeklärten. Der hat, eine Symphonie beendet, die Partitur nicht eher zum Drucker gegeben, als bis er wochenlang darangesessen und im Notentext alle Quinten durchgezählt hatte, und wenn er am Ende angekommen war, hat er von vorne angefangen, in der Angst, sich verzählt zu haben, das ist jetzt rausgekommen, unter solchen Zwängen hat der gelitten, das weiß man jetzt von dem, das ist das Eigentliche, das haben die Biographen ein Jahrhundert lang vertuscht, unter den Teppich gekehrt haben die, wie krank der war im Kopf, der war doch krank im Kopf war der, aber wir haben das jetzt enthüllt.
Oder dieser Schriftsteller! Wollte seine Frau loswerden, weil er‘s mit einer jungen Schauspielerin treiben wollte, und was hat der gemacht, der hat versucht, seine Alte ins Irrenhaus zu bringen, hat allen Ernstes einen Arzt konsultiert, einen Spezialisten, in der Hoffnung, er könnt seiner Frau was anhängen, das ist jetzt rausgekommen, und die Anhänger von dem wollen das gar nicht wissen, die winden sich, die wollen das wegerklären, weil sie nämlich eine Gipsfigur aus dem machen wollen, als Edelmenschen wollen die den haben, aber das haben wir denen jetzt aus den Händen gewunden, nicht mit uns, wir haben das enthüllt wir haben den entlarvt, und da steht der jetzt. Stück Dreck!
Nun ja, bei dem Großschriftsteller, der seine Frau hatte ins Irrenhaus bringen wollen, weil er sich in eine junge Schauspielerin verguckt hatte, handelte es sich um den Unnachahmlichen, habe ich schon erwähnt? Freut mich, dass ihr euch erinnert, das zeigt mir eure Aufmerksamkeit.
War ein anderer berühmter Mann, der hatte gesoffen. Wieder ein anderer, der hatte gefressen bis zum Platzen. Der dort hatte gewohnheitsmäßig Kollegen denunziert. Jener mit der Geheimpolizei seines Landes zusammengearbeitet. Dieser hatte dem Diktator gefällige Festmusik geschrieben. Jener hatte in Briefen schmutzige Bemerkungen über Menschen gemacht, von dunklerer Hautfarbe als er. Ein anderer hatte seine Kinder geschlagen. Hatte als Minister Todesurteile unterschrieben. Hatte Falsches gesagt. Das war überhaupt das Ding. Das ist jetzt rausgekommen, was der Falsches gesagt hat. Hat falsche Wörter gesagt falsche Sätze geschrieben, die sind jetzt alle gefunden worden, in den Briefbänden, das Schwein.
Und die Enthüllung der falschen Worte, die womöglich zu Lebzeiten des Schweins noch gar nicht als falsch gegolten hatten, oder vielleicht doch, die Enthüllung reichte, dass die Werke des Entlarvten gestrichen wurden aus den Leselisten der Schulpläne. Filme eines Entlarvten konnten nur noch im Ausland gezeigt werden, allen Ernstes, die Richtigen im Inland sorgten dafür. Komitees, die einem entlarvten Falschen einen Preis verliehen, konnten sich gleich mal warm anziehen.
Unter den Entlarvten waren übrigens Falsche von jener Art, die schon von den Stiefeln zu Falschen promoviert worden waren. Tauchten nicht nur da und dort auf in den Proskriptionslisten, sondern an prominenter Stelle. Hing zum Teil damit zusammen, dass diese Falschen begabte Menschwesen waren, in allen Künsten und allen Professionen überproportional vertreten. Hatte aber auch noch andere Gründe. Ich komme darauf zurück.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 21.10.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)