Als der Junge ein alter Mann war, lag die Erkennungsmarke des Eigentlichen knapp unterhalb der Linie, da die Enthüller versicherten: Auch dieser große Mann musste täglich aufs Klo, das hat man bisher gar nicht gewusst, aber jetzt ist es rausgekommen, und endlich wissen wirs. Das ist jetzt rausgekommen, das hat man jetzt rausgekriegt über den. Das war das Eigentliche von dem. Dass der täglich aufs Klo musste. Das ist jetzt enthüllt worden.
Ich habe schon kurz referiert, altgedienten Gelehrten wurde entlarvend nachgewiesen, sie hätten als Studenten einer Kommilitonin an den Busen gefasst. Das ist jetzt rausgekommen! Das ist das Eigentliche von dem! Nein, nicht mehr die Lebensleistung eines Wissenschaftlers von weltweitem Ansehen war fortan das Eigentliche von dem, sondern der betrunkene Student vor fünfzig Jahren, der seine Hand hatte, wo sie nicht hingehörte, und dieser betrunkene Student war der jetzt ein und für alle Mal, das war sein Kern, das war sein Eigentliches, nichts mehr sonst, und wenn der Alte in Panik geriet, statt sich abzuwenden in kalter Verachtung, wenn der womöglich abstritt die Sache, umso besser! Der streitet ab! Der sucht zu verhüllen! Zu verbergen! Das beweist ja, dass die Sache das Eigentliche ist an dem, sonst würde er sie ja nicht abzustreiten suchen!
Ihr seht, welche Möglichkeiten sich aus solcher Denke ergeben, und die Hocherweckten beschritten sie mit ruhiger Entschlossenheit, diese letzte Stufe.
Denn auf dem Plateau hinter dieser letzten Stufe lag die freie Fingierung, die bloße Behauptung.
Logisch.
Einfach was behaupten über den, einfach was in die Welt setzen!
Was wird der dann machen? Wird abstreiten, der Depp, wird sich zur Wehr setzen, ganz klar, und sobald der anfängt zu zappeln und zu fuchteln, haben wir gewonnen, denn wenn der abstreitet, beweist der ja damit, dass wir ihn kalt erwischt haben, dass wir sein Eigentliches enthüllt haben, und je mehr der das wieder zu verbergen und zuzudecken sucht, desto gewisser ist, wir haben das Eigentliche entlarvt.
In seinem Alter wunderte sich der Junge, dass das überhaupt noch einer auf sich nehmen mochte, Ämter zu bekleiden, seinen Namen sein Gesicht in der Öffentlichkeit vorzuzeigen. Irgendwann war kaum noch einer übrig, dem nicht ein Buch hinterhergeschrieben wurde: Der hat mich belästigt! Der hat kleine Kinder geschändet! Gegen den ist ein nie aufklärendes Strafverfahren gelaufen! Der hat seine Spesenrechnung frisiert!
Wie ich schon wiederholt darlegte, die Wecker saßen stets und immer am richtigen Ende des Zeigefingers, ihre Opfer immer in der Schusslinie. Die Wecker riskierten niemals, dass der Zeigefinger sich umdrehe und die Schussrichtung wechselte. Der Zeigefinger war ja ihr eigener. Und es tauchte immer jemand auf, sie fanden immer jemanden, der dem Zeigefinger die Richtung wies. Dem Zeigefinger die Richtung zu weisen, das war ja so einfach! Man musste nichts können nichts wissen keine Lebensleistung vorzeigen. Einfach nur sagen: Der hat mich damals belästigt!
Und es lohnte sich, es wurde belohnt. Mit Aufmerksamkeit, mit Zuwendung, mit Anteilnahme. Blitzende Kameras! Hingehaltene Mikrophone! Uninteressante Leben, plötzlich im Mittelpunkt des Interesses! Interviews! Gesicht zur Hauptsendezeit im Fernsehen! Wer weiß, vielleicht sogar ein Buchvertrag!
Je öfter es geschah, desto mehr vergessene Menschwesen, die so gerne auch mal wichtig gewesen wären, überlegten sich: Das könnte ich doch auch mal machen, dem Zeigefinger die Richtung weisen! Dieses Gesicht da, der will Präsident werden, den kenn ich, vor vierzig Jahren waren wir noch gleichauf, was gleichauf, ich hab den gar nicht beachtet damals, dann ist der an mir vorbeigezogen, das Schwein, das hat der doch gar nicht verdient, ich müsste berühmt sein, ichichich, ich hätte das verdient, dem stell ich ein Bein, gegen den zeig ich dem Zeigefinger die Richtung.
Und der Brüll der Hocherweckten durchgrölt alle öffentlichen Räume, grölt hinein ins Privateste, ist erst zufrieden, wenn er sich hineingebrüllt hat ins Privateste, den ziehen wir aus, dann sehen alle, der ist auch bloß nackt unterm Hemd, und wir weiden uns an dem Anblick, wie der sich windet unterm Licht der Scheinwerfer, die er doch gesucht hat, wie er seine Blöße mit den Händen bedecken will, aber es gelingt ihm nicht, denn gerade dahin leuchten wir, auf die Blöße, und alle grinsen und gucken hin und lecken sich die Lippen, der würde jetzt am liebsten im Erdboden versinken, der, aber wir halten fest wir halten drauf!
Nein, keiner blickte betreten weg und schüttelte den Kopf und sagte: Ich will das gar nicht sehen ich will das nicht einmal wissen, ihr seid Vieh mit eurem Zeigefinger, ihr seid Belästiger, ihr seid Auswurf und Abfall.
Nun ja, der Junge sagte das, aber wen interessierte schon, was der sagte.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 17.10.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)