Hochwasser

Der Weg senkte sich, und quervoran lag Geglitzer, blanke Platte aus Silberlicht.

„Haaalt“, brüllte Aslan und stemmte sich zurück zwischen die Ochsenköpfe, die schwerfälligen Tiere zum Anhalten zu bringen. Der Wagen knarrte und krachte und blieb endlich stehen, hinten hörte man Inge schreien und schimpfen, sie hatte Mühe, ihre Tiere zu beruhigen, die beiden Gespanne waren zu dicht aufeinander gefahren, und Diogenes Laërtius hatte im Gehen und Ziehen gemütlich vor sich hin geträumt, so wäre er beinahe in den abbremsenden Wagen vor ihm hineingerannt.

„Was ist denn los?“ rief Inge.

Vor ihnen lag ein weites spiegelndes Gebreite, mit wenigen Gebüschinseln, das war Überschwemmungsgebiet, der Weg war überschwemmt, das Land war überschwemmt, eingetaucht in die Silberflut …

Grand Mère kam heruntergestiegen, und Inge, und die beiden Jungen.

Schweigend standen die Kaufleute und starrten auf die spiegelnde Fläche, die ihnen den Weg versperrte, sie sah aus wie ein tiefer See, an dessen jenseitigem Ufer stand wieder Wald, doch glänzte und leuchtete es auch zwischen den Stämmen, Hochflut umspülte die Wurzeln.

„Hochwasser“, murmelte Aslan.

„Was machen wir?“ fragte Roger nach einer Weile.

„Wir müssen durch“, sagte Aslan. „Entweder durch, oder zurück.“

„Das ist unmöglich“, sagte Inge erschrocken, „wir können nicht zurück, nein wirklich, das können wir nicht.“

Sie betonte es noch mehrmals, und Roger wunderte sich, aber natürlich hatte sie recht, zurück konnten sie nicht, und Inge drängte sich an ihn und schlang ihren Arm um den seinen, dass Grand Mère sie aufmerksam ansah, so wie auf der Treppe, in Dietrichs Haus.

„Sehr tief kann das nicht sein“, meinte Aslan mit abschätzendem Blick, „das Gelände ist flach. Wir könnten es schaffen, wenn einer von uns vorausgeht und den Weg prüft und seine Tiefe … dann führt einer das erste Gespann am Halfter, und das zweite kommt von selbst nach.“

„Schon“, sagte Grand Mère und zupfte an ihrer Unterlippe. „Aber wo ist der Weg?“

Aslan spähte über die stille Fläche, weit zur Rechten kräuselte sich etwas wie eine langgezogene Welle, eine Unruhe, fast wie eine leichte Erhöhung im Wasser, ein Wall …

„Das muss der Fluss sein“, sagte er.

„Du hast recht“, sagte Roger und schaute fasziniert, „das muss er sein.“

Der Fluss lag als ein glitzerndes Band inmitten des weiten Teiches, war eine Milchstraße, mit Schleiern und Wirbeln. Er floss in westlicher Richtung.

„Der ist ein gutes Stück weit weg“, sagte Inge. „Dann kann es hier nicht tief sein.“

„Sicher ganz flach“, sagte Aslan zustimmend. „Seht ihr die Büsche dort? Zwischen denen muss der Weg hindurchgehen. Und da drüben ist eine Öffnung zwischen den Bäumen, wenn wir darauf zuhalten, finden wir den Anschluss.“

„Mit Vautrins Hilfe“, sagte Grand Mère kräftig.

[…]

„Gib mir den Planenstock herunter, ich bitt dich“, sagte Aslan zu Grand Mère.

Der Planenstock war ein langes Rundholz, seine drei Ellen lang, den verwendeten die Kaufleute, um beim Beladen oder Entladen der Waren die Seitenplanen (mit Schwung!) auf den Wagenaufbau zu stoßen; und sie hernach auch wieder herabfallen zu lassen.

Jetzt wollte Aslan ihn zum Stochern benutzen, um beim Führen einen Anhalt zu haben.

Er sagte: „Ich gehe zwölf Schritte voraus, das wird genügen; dann folgt ihr nach.“

„Alles klar“, nickte Roger, der abwartend bei Moses Maimon stand, das geduldige Tier am Maulriemen haltend. „Mit Vautrins Hilfe.“

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 16.10.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)