Die Impotenten

Sie waren steril, es wurde ihnen kein neuer Gedanke, nicht einer, sie bauten nicht einmal Luftschlösser, geschweige denn bewohnbare Katen, sie konnten nicht bauen, sie waren Versager und impotent, aller Fortschritt der Menschen geschah gegen sie, alle Häuser wurden unter ihrem Protest gebaut, alle Straßen geglättet unter den Hintern ihrer Sitzstreiks, jede neue Erkenntnis der Wissenschaften überraschte sie hinterrücks, vor jeder neuen Geschichte jeder neuen Melodie standen sie glotzend, und wussten dann Kritisches. Kritisches wussten sie immer, irgendeine neue Sache wussten sie nie. Zu entlarven und zu enthüllen wussten sie immer, aber der atmende Leib, den sie quälten, den hatten sie am Wege gefunden, den konnten sie im schlimmsten Fall zerstören: ihn erschaffen nie. Selbst der Wurm der sich krümmte unter ihrem Tritt, war größer als sie alle, denn er war lebendiges Leben. Sie aber konnten das lebendige Leben nur auslöschen, und wenn sie es getan hatten, waren sie stolz auf sich und versicherten: So wirken wir das Licht, das Licht der Hocherwecks.

Sie waren Nullen, sie waren Versager, sie waren impotent.

Sie konnten nichts.

Zur Zeit des Jungen hatten sie längst gesiegt. Gesiegt bis hin zur Fraglosigkeit. Nirgendwo mehr Fragen, was es mit diesem Sieg denn auf sich habe, ob auf gutem Grund der stehe, und was jetzt kommen solle, nach dem Sieg.

Was tut der Sieger, wenn es niemanden mehr gibt, denn er besiegen könne?

Sieger gibt es nur dort, wo es Besiegte gibt.

Wer Sieger sein will, muss suchen und finden, wen neu er niedersiegen könne.

Äußerstenfalls könnte er sich selbst besiegen, aber diese Frage stellte sich den hocherweckten Siegern nie. Der Sieg des Hocherwecks war Ziel in sich selbst. Es gab kein danach. Das Hocherweck hatte zu siegen, fertig.

Es hatten keine Fragen mehr gestellt zu werden, und wer dennoch fragte, begegnete höhnischem Glotzen.

Was ist das denn für einer? Bekommt der das bezahlt?

Enthülldenk durchseuchte alles Reden über die Wirklichkeit.

Sie hatten ihre Geschäftsgrundlage durchgesetzt, die Wecker, dergestalt, dass andere Denke als Enthülldenk fast nicht mehr denkbar war.

Das Eigentliche ist verborgen, und das Verborgene ist das Eigentliche.

Das Eigentliche wollen wir aber doch! riefen die Wecker. Oder etwa nicht? Das wollt ihr doch auch! Das Eigentliche! Na bitte, also müssen wir enthüllen und entlarven, wenn wir da ran wollen, an das Eigentliche, denn das Eigentliche ist ja immer verborgen, und erst das Verborgene erweist sich als das Eigentliche.

Bedenkt immer, versicherten die Hocherweckten, wenn einer euch erzählt, mit mir verhält es sich so und so, dann lügt der. Solche Selbstaussage ist nur Fabrikation des Schleiers, über dem Wirklichen, dem Eigentlichen. Wenn einer so redet, dann arbeitet der am Verblendungszusammenhang. Der will eure Unterdrückung! Vorweg wissen wir, das Eigentliche ist verborgen, und das werden wir rauskriegen.

Das Rauskriegenwerden, das war die Drohung. Wer immer zur Zeit des Jungen in irgendeiner Form in die Öffentlichkeit trat, wer immer sich irgendwie sichtbar machte, mit einer Leistung, mit einer Eigenschaft, mit einer Auffälligkeit, wer immer ein Buch veröffentlichte als Musiker sich einen Namen machte als Politiker Ämter wahrnahm in Vorstandsetagen seine Karriere verfolgte: über dem schwebte das Schwert der Enthüllung.

Das Schwert der Entlarvung.

Wart du nur, dich kriegen wir, über dich kriegen wir was raus, das Verborgene, das werden wir enthüllen, und das Verborgene, das wir enthüllen, das wird dann sein dein Eigentliches!

Wir kriegen das raus, was eigentlich los ist mit dir!

Was Musik Schauspiel Politik Wissenschaft! Alles nur Schleier und Täuschung, und drunter das Eigentliche, und das kriegen wir raus, und dann stehst du nackt da, du Sau! Glaubst, du kannst uns täuschen, glaubst, du kannst vor uns glänzen mit deiner Leistung mit deinem Tun! Und untendrunter hältst du die ganze Zeit dein Eigentliches versteckt, du Schwein, das kriegen wir raus, das Eigentliche.

Überall Enthüllungen überall Entlarvungen.

Das ist jetzt rausgekommen das haben wir jetzt rausgekriegt! ereiferten sich die Wecker, und es verschlug nichts, dass die Enthüllungen in aller Regel belanglose Altbekanntheiten waren. Sie durften es nicht sein, denn die Enthüller wären sonst keine gewesen.

Was aber enthüllt was aber entlarvt wurde, was man jetzt rausgekriegt hatte, das war das Eigentliche.

War das Eigentliche einfach deshalb, weil es vorher – vorgeblich – verborgen gewesen war. Worauf der Wecker den Finger legte und sagte, das war verborgen gewesen, das erhielt neue Dignität als das Eigentliche.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 15.10.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)