Flucht

Lang der Weg …

Aslan schritt aus, gleichmäßig, mit ruhig schwingenden Armen, bald sollte Roger ihn ablösen, obwohl das nicht nötig gewesen wäre, er hätte lange noch so weiterwandern können.

Das Gebüsch verdichtete sich, griff oft hinaus auf den Weg, so dass die Äste und Ranken an den Wagenplanken schleiften, die Ochsen stießen mit den Hörnern, um ihre Augen zu schützen, es war gut, dass einer vorausging, sie hielten sich an die ruhige Gestalt, die ihnen den Weg wies.

Magdalena träumte und wachte, wachte und träumte. Ab und zu schaute Grand Mère nach ihr, die beiden Frauen sprachen belanglose Worte, Versicherungen der Nähe, nichts anderes, und manchmal kam Inge nach vorne gesprungen, nach ihrer Mutter zu sehen, das ging ja leicht, sie sprang ab vom fahrenden Wagen, lief nach vorne und ließ sich geschickt vom drehenden Rad auf Aslans Kutschbock heben … Magdalena freute sich, wenn sie ihre Tochter sah, doch sprach sie oft von Roger, riet Inge, ihn nicht zu vernachlässigen, „lass ihn nicht so lang allein, mein gutes Kind“, und Inge gehorchte ihr, von Unruhe getrieben, es war etwas von Fahrigkeit um sie, das immer wieder in Kichern ausbrach, oder haltloses Geplapper.

Aslan hörte dann hinter sich das leise Tappen von Füßen, manchmal blickte er sich flüchtig um, sah die Gestalten im Mondlicht, bei den hohen Wagenplanen, hinter den dunklen Rücken der Ochsen.

Die Tiere bewegte sich vorwärts in gleichmäßig wiegendem Gang, ohne Innehalt, sacht schaukelten die Wammen, die träumerischen Ochsenaugen waren halb geschlossen: sie zogen und gingen, gingen und zogen, nichts weiter. Keine Unruhe, keine Müdigkeit, auch Hunger noch nicht.

Aslan wanderte weiter, das Leitseil um den Leib geschlungen. Seine Gedanken bewegte sich flüchtig zu dem Haus, Dietrichs Haus, zu den Dunkelheiten der Korridore, das Begräbnis des Alten … was sie jetzt wohl machten? Ob sie auf dem Weg waren, hinter ihnen her, den entflohenen Kaufleuten, den Übeltätern, die sich geweigert hatten, niederzuknien und anzubeten? Ob sie unterwegs waren, ausgreifenden Ganges, mit geschwungenem Stab, der wehenden Glocke des Rocksaumes, unterwegs, sie einzuholen? Oder im Pferdewagen, die schweren Ackergäule eingespannt? Wie undeutlich das alles war, unsicher, ohne Klarheit!

Aslan runzelte die Stirn, für einen Augenblick verstand er, wie unsinnig solche Befürchtungen waren … und doch … waren sie es wirklich, unsinnig?

Flucht.

Sie waren ja nur Kaufleute … Aslan musste für die Seinigen sorgen, Unheil von ihnen abwenden, sie beschützen, er konnte und durfte sie keinen Gefahren aussetzen. Flucht war das bessere Mittel in solchen Fällen; gewiss, der Maître wäre nicht davongelaufen, aber das war auch etwas anderes, einen Maître anzurühren, das würden sie nie wagen, nicht einmal sie, diese Irren in Dietrichs Haus … aber er, Aslan, er hatte Sorge zu tragen für die Wagen und Tiere, und die Frauen und Kinder, für Eluard auch besonders, denn der war ihm anvertraut worden, dass er ihn behüte und sicher fortschaffe zu seinem Ort, so war es besser, einen weiten Raum zu legen zwischen die Wagen und das Haus, und ohne Säumen.

Hinten tappte es, Roger kam nach vorne. „Wie läuft es?“ fragte er.

Aslan nickte. „Alles in Ordnung“, sagte er, „der Weg ist gut, du siehst es ja …“

„Ja“, sagte Roger, „aber er scheint immer noch weiter zum Fluss zu führen, das Gebüsch wird auch immer dichter …“

Aslan nickte erneut, antwortete aber nichts. Die beiden Männer gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, durchschritten den Mondsee, in Licht gebadet.

Dann sagte Roger: „Ich kann dich jetzt ablösen, setz dich nur wieder hinauf auf den Wagen …“

„Lass uns eine Weile zusammen gehen“, antwortete Aslan, „mir scheint, der Boden wird feuchter …“

„Wie du willst“, sagte Roger und blickte ihn von der Seite an, er sah zum ersten Mal, dass Aslan alt wurde … alt war … scharf eingeschnitten und müde waren seine Züge in dem gleißenden Mondlicht.

„Wie geht es auf den Wagen?“ fragte Aslan, ohne den Blick zu heben.

„Die Kleinen schlafen, glaube ich“, antwortete Roger. „Waldemar hat schlecht geträumt, sagte Inge, von dem Haus, weißt du … das ist ja auch kein Wunder, ein unguter Geist hat dort geherrscht, wie Grand Mère sagte … die Frauen sind wohlauf …“

Er sah Aslan erneut von der Seite an, er hatte das Gefühl, dass der schweigsame Mann etwas hören wollte, Bestätigung, Zustimmung, aber … nie hätte Aslan danach gefragt, darum gebeten, so war er eben, und Roger wusste nicht, was er sagen sollte.

„Eine gute Strecke Wegs kommen wir voran heute Nacht“, hub er endlich wieder an, vorsichtig. „Wenn wir zu Morgen zwei Stunden rasten, und dann weiterfahren, so sind wir bis Abend so weit, dass uns niemand mehr einholen kann … und nicht nur das … wir …“ Er stockte, und brach ab. In seinem Kopf war nur eine unbestimmte Vorstellung von dem, was er hatte sagen wollen, er hatte sagen wollen, dass sie entfernt sein würden und unberührbar durch das Haus, Dietrichs Haus, und sein klammerndes Festhalten; dass Aslan sie nicht nur fortgebracht hatte auf dem Weg, sondern auch einem peinlichen Einfluss entzogen; und dass er recht gehandelt hatte, sie alle der Verstörung zu entheben. Aber er fand die Worte nicht, und Aslan fragte nicht.

So gingen sie eine Zeitlang nebeneinander her, schweigend.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 14.10.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)