Abgrund

Rütteln und Dröhnen, Rütteln und Dröhnen …

Sie nahmen es schon gar nicht mehr wahr, die Jungen, und trotzdem konnten ihnen die Knochen wehtun, wenn sie nach langer Fahrt vom Wagen herabstiegen, für Waldemar genügten ein paar Sprünge, ein kurzer Lauf, um die Steifheit in den Gelenken loszuwerden, aber Eluard war da empfindlicher, er bekam auch blaue Flecken von der Härte des Wagenbodens, obwohl doch eine dicke bequeme Decke unterlag …

Nicht dass er sich je beklagt hätte.

Er saß da, in seinem Kopf war ein verschwommenes Halbdämmer, und schaute zur Plane hinaus, auf den weißschimmernden Weg, die Bäume neigten sich darüber, mit gestochen scharfen Umrissen, feine Blätterfinger, und die Stämme wie Scherenschnitte.

Wir, am Grunde des Lichtmeeres.

Eluard beugte sich vor, zog die Plane weiter zurück und streckte den Kopf hinaus, indem er sich mit der Hand auf das Schlussbrett stützte.

Kühl die Nachtluft, kühl und klar, und am Himmel der Mond. Eluard blickte hinauf, das Licht blendete ihn fast, der Mond war eine weißglänzende, polierte Scheibe, in Silber gebadet, überdeutlich das vertraute Gesicht. Um ihn herum war ein weiter Hof aus Schwärze, er überstrahlte die Sterne, und über den Äquator zog die Milchstraße, schleirig weißes Band, vielfach gewunden, heraufgeholt aus den Unendlichkeiten des Raums. So tief war der Himmel, glänzende Tiefe, dass man hätte hineinstürzen mögen, fallen, und doch nirgendwo aufschlagen, immer weiter fallen, weiter treiben, kreiselnd, eingehüllt in Kühle und Schwärze und gleißenden Silberglanz.

Eluard starrte hinauf, ein nagendes Gefühl von Beunruhigung erfasste ihn, vielleicht war es sogar Angst, er wünschte, es wäre jemand da, der ihm erklären könnte, Worte sagen zu den Himmelskörpern, Benennungen … dann wurde ihm schwindelig vom Hinaufstarren, unbestimmt gewahrte er aus dem Augenwinkel den Weg, das Verfließen, den sachten Zug der Bäume, und darüber die Tiefe der Sterne, sie funkelten nur wenig, das war wie ein mächtiger Sog, kaum zu widerstehen, wo war da oben, wo unten, das Firmament floh auseinander, und hinter unendliche Tiefen legten sich neue Abgründe, das war die Unendlichkeit des Raumes, und wo ist in der Unendlichkeit Über und Zwischen, Neben und Darunter? Eluard sah Schwärze um sich, und gewaltige Hohheit, als würde er sich ausdehnen, oder sein Kopf, auseinanderfliehen zu einem grenzenlosen Raum, gleich war sein Körper nur noch ein winziges Pünktchen in der pulsierenden Schwärze, ja, Partikel in der ortlosen Ausdehnung, und die Ausdehnung begann zu flattern wie hastige Atmstöße, zuckende Bewegung des großen Hauses, und Eluard fühlte einen drehenden Schwindel unterhalb der Herzgrube, ein süßlich sehrendes Ziehen, und mit einem Aufschnappen stieß er sich zurück in den Wagen hinein, mit klopfendem Herzen, und starrte blind und erschrocken um sich.

Was war das nur gewesen? Er fürchtete sich. Vielleicht war er krank … trug eine schleichende Unheimlichkeit in seinem Herzen, die wartete nur darauf auszubrechen …

Er spähte furchtsam hinaus durch den Planenschlitz. Aber die Tiefe! Voll lockenden Glanzes war sie gewesen, gewaltig-gleichgültige Größe, in der könnte man vergehen, sich hinter sich lassen, könnte Wanderer sein, der die Räume der Ortlosigkeit erforscht, die großen Räume, die wändelosen, die wandellosen …

Er zog die Beine an und legte die Arme darum, mit dem Rücken lehnte er sich gegen das Schlussbrett, so dass er in den Wagen hineinschaute, in das vertraute Dämmer des Wagens, angefüllt mit Gerät und Gerüchen und heimlichen Schatten … wenn er den Kopf wandte, konnte er hinausspähen in den Mondteich, in den gleißenden Seengrund, in die Schattenrisse der Bäume, mit den wispernden schwarzen Blättern, silberüberflutet.

Lang ausgestreckt am Wagenboden lag Waldemar, ein Bein angezogen, im gebogenen Arm die kleine schwarze Katze, die war anzusehen wie ein verfließender Tintenklecks, Schwanz und Pfoten sorgsam geborgen.

Sie schliefen, beide, und Eluard hockte da und betrachtete ihre Schatten, in der Dunkelheit, in der weichen Dunkelheit.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 06.10.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)