Das Ächzen

Er hatte fünf Jahre gearbeitet, er konnte Ergebnisse vorzeigen. Mehr als tausend Seiten Text, zweitausend Seiten Anmerkungen, fünftausend Seiten Anhang mit Dokumenten.

Der Doktorvater ächzte. Die Gutachter ächzten.

Man zog den Brillanten beiseite.

Sie wollen doch noch eine Karriere haben? fragte man ihn. Gibt nach wie vor Kräfte, starke Kräfte, die wollen sowas nicht wissen. Oder Sie kürzen das Ganze ein bisschen? So dass es noch in die Rubrik „Frauenforschung“ passt? Das war doch Ihr Ausgangspunkt! Frauen in den Gefängnissen der Revolution!

Da kippt was, sagte der Doktorvater endlich, mit Blick auf die Stapel beschriebenen Papiers. Wenn das erst mal draußen ist, ist nichts mehr wie vorher.

Und dann: Wenn du das wirklich willst, wenn du die Arbeit wirklich so veröffentlichen willst, dann solltest du den Stier bei den Hörnern packen und rausgehen mit dem Ding. Öffentlichkeit herstellen.

Die Gutachter wiegten die Köpfe, sie konnten nicht umhin, dem Brillanten für seine Leistung die Bestnote zu geben, aber am liebsten hätten sie seine Arbeit in der Tiefe der Fachzeitschriften vergraben. Als eine herausragende Leistung der Spezialforschung.

Das war die Sprachregelung, auf die man sich einigte. Es handelt sich bei dieser Arbeit um eine Detailstudie. Tiefenscharf, unbedingt. Bewundernswert. Von unvergleichlicher Quellennähe. Faktengesättigt. Meisterliche Beherrschung der Dokumente. Man sieht einmal wieder, was gewissenhafte Quellenkritik zu leisten vermag! Quellenkritik nach durchaus traditionellem Muster! In ungedachter Tiefenschärfe sind da Schichten freigelegt worden im überlieferten Material, die hat so noch keiner gesehen! Insofern ist die Arbeit vor allem bedeutsam als ein Beispiel für die Arbeit am Text! Jawohl, als ein methodisches Muster!

Sie wollten mit ihren Lobpreisungen die Arbeit außer Sicht schieben, und erreichten das genaue Gegenteil. Je mehr sie die methodische Unangreifbarkeit des Brillanten rühmten, desto weniger konnten sie die Stichhaltigkeit seiner Ergebnisse marginalisieren.

Das gibt Ärger, sagten sie. Wir geben dir deine Bestnote, aber dann sieh selber zu, wie du mit den Folgen klarkommst.

Der Brillante erlebte zwei hochgespannte Jahre, er heiratete seine kleine Freundin, das erste Baby krähte in der Wiege, und der Doktorvater brachte einen angesehenen Verleger der Hauptstadt bei, einen, den er aus den geselligen Abenden der Hauptstadtelite kannte. Du schreibst den Text neu, sagte der Verleger. Tausend Seiten, aber dabei muss es bleiben. Wer neugierig ist auf die Quellen, den verweisen wir auf deine Dissertation. Du bringst nur die Ergebnisse, die Fakten, die gesicherten Sachverhalte. Komprimiert.

Der Brillante arbeitete wie ein Tier. Während er noch schrieb und redigierte, sickerten Gerüchte durch, dann Nachrichten, es gab Rezensionen der Dissertation in den Fachzeitschriften, niemand wagte seine methodische Genauigkeit anzuzweifeln, die Stichhaltigkeit der Ergebnisse, und in den elektronischen Spielzeugen hieß es, da ist was Großes unterwegs.

Als das Buch erschien, das Buch für das breite internationale Publikum, war die Grundthese der Öffentlichkeit schon bekannt. Die These wurde nicht mehr als These gesehen, sondern als fertige und nicht mehr widerlegliche Tatsachenfeststellung.

Die Große Revolution war in Wahrheit eine Abfolge von Massenvergewaltigungen.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 03.10.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)