Als er angefangen hatte mit seinem Nachgraben, hatte er noch gedacht, einen vertiefenden Beitrag zu leisten. Einfach das Bild, das längst schon vorhandene Bild ein wenig tiefenschärfer zu machen, ein wenig farbiger. Aber nun entdeckte er, das ganze Bild war eine Fälschung. Kratzte man an der Oberfläche, kam darunter das wirkliche Gemälde zum Vorschein. Die übermalte Wirklichkeit.
Die Geschichte der Revolution, sagte er, das ist übermalte Geschichte. Da waren Fälscher am Werke.
Die Große Revolution ist eine Geschichte der Massenvergewaltigungen.
Die Große Revolution ist die Geschichte der Großen Revolutionären Ideen! schrie die überkommene Geschichtsschreibung. Um die Ideen geht es doch! Die haben die Welt verändert! Das ist das Eigentliche, das ist, worum es geht. Alles andere, schmerzlich, na sicher, aber doch Beiwerk.
Ja, genau das ist die Frage, dachte der Brillante. Nach welchen Kriterien sortieren wir Beiwerk und Eigentliches? Weil das Revolutionsvieh auf sein Ideenpalabra zeigt und schreit, darum geht es, deshalb müssen wir folgen? Müssen wir wirklich? Müssen wir uns von dem Revolutionsvieh vorschreiben lassen, worum es uns zu gehen hat? Wieso ist der Proklamationenbrüll das Eigentliche, und das Leiden der Opfer nur Beiwerk? Wer legt das fest? Wieso sagen wir nicht, das Leiden der Opfer ist das Eigentliche, und die Erklärungen der Menschenrechte sind nur das Beiwerk?
Wieso haben die Opfer das nicht zu entscheiden? Sagen die etwa, die Proklamationen sind das Eigentliche, und unser Leiden ist nur Beiwerk?
Sagen die Opfer nicht vielmehr, die Proklamationen, die sind nur die Dekoration, die Tarnung, die sind die Bettvorhänge, hinter denen die Vergewaltigung geschieht? Die Vergewaltigung weinender Zwölfjähriger?
Wieso ist das nicht das Eigentliche?
Sagt alle Moral nicht, es gilt das Tun?
Sagt die Moral etwa, es gilt das Reden?
Niemals gelten die Worte, es gilt das Tun.
Und gemessen an ihrem Tun, waren diese Helden der Revolution Viehgeburten von einer schweinen Abgründigkeit, die lässt keine Beschönigung mehr zu.
Er fing um diese Zeit an, der Brillante, fast die Sprache seines Heimatlandes zu vergessen, aber er hatte sehr genau die Abfolge der historischen Bemühungen im Kopf, die nach und nach die Geschichte des Stiefelimperiums durchleuchtet hatten bis auf den Grund. Immer war über das Leiden der Opfer zuletzt geredet worden.
Geschichte war geschrieben worden als Geschichte der Taten, Geschichte der Täter, Geschichte aus Sicht der Täter.
Ja, aber wer sagt, dass die Sicht der Täter das Eigentliche sei? In jeder geschichtlichen Darstellung wurde einlässlich dokumentiert, wie die Machthaber die Anderen entrechtet hatten. Die Zusammenkünfte wurden aufgelistet, die überlieferten Gespräche wiedergegeben, die Beschlüsse summiert. Taten! Machen!
Aber das Eigentliche, das war nicht das Machen und Tun, das Eigentliche war das Erleiden. Die eigentlichen Subjekte der menschlichen Geschichte auf dem Planeten Erde sind die Leidenden, und der moralische der menschliche Wert der Täter ermisst sich daran, inwieweit sie ihrem Tun das Leiden der Erleidenden einberechnen.
Historie war zu allen Zeiten parteiergreifend, insofern das geschichtsschreibende Menschtier sich identifizierte mit den Tätern der Geschichte, beschrieb ihr Tun und Machen, analysierte ihr Handeln, und für die Opfer des Handelns nur Aufzählungen übrig hatte.
Der Opfer waren gewöhnlich so viele, dass sie sich in Statistiken verwandelten.
Die Täter, die hatten Namen. Nach den Namen der Opfer mussten die Nachlebenden graben und wühlen, und bekamen oft kaum mehr als notwendigsten Daten zusammen.
Wieso waren die Täter die Eigentlichen, und die Opfer das Beiwerk? Wieso war das Tun der Täter das Eigentliche? Weil die Historiker der Taten insgeheim die Täter bewunderten? Weil vielleicht das Menschtier allgemein über die Jahrtausende seiner Geschichte den Kopf beugte vor den Tätern, und die Opfer verachtete? Weil es sagte, das Menschtier: Das waren eben Verlierer, das waren eben Schwache, sonst wären sie ja nicht Opfer geworden, die Täter aber sind immer die Starken, sonst würden sie ja nicht Täter werden!
Die Geschichte der Stiefelimperien der Mützenimperien der Viehimperien der Bartbrüller aller Art hatte solcher Tatanbetung allgemach den Boden entzogen, aber die Heiligsprechung der Großen Revolution war nun einmal vollzogen worden, es hatte immer Gegner und Kritiker der Revolution gegeben, denen hatte man widersprochen, die hatte man verlacht, denen wollte man nun den Triumph nicht gönnen.
Gegner der Großen Revolution! Das sind doch die, so vor den Königen auf dem Bauch liegen! Speichellecker der Macht! Von der Macht bezahlte Schreiberlinge! Lakaien!
Und die sollen jetzt recht behalten?
Ist mir egal, dachte der Brillante, ist mir egal, wer wem was gönnt.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 01.10.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)