Einen Schritt vor, den hängenden Arm nachschwingend, die Faust locker geschlossen, den nächsten Schritt vor.
Aslan war ein guter Wanderer, ausdauernd, das hatte er in seiner Zeit als Kiepenhändler gelernt …
Geruhig wiegte er aus den Gehtakt mit beiden Armen, denn das Leitseil hatte er sich um den Leib geschlungen; nur mit halbem Ohr lauschte er auf das Knarren und Rumpeln der Gespanne, und die Huftritte der Ochsen. Roger würde ihn alle zwei Stunden ablösen beim Führen, wiewohl das nicht nötig gewesen wäre, nein, Aslan hätte gut die ganze Nacht hindurch wandern können, ohne zu ermüden.
Der Mond schien strahlend hell, das war ein großer Vorteil, so bedurfte man nicht der Laterne, die pflegte den Träger mehr zu blenden als ihm zu nützen, und wurde gern entbehrt.
Die Ochsen stampften hinter Aslan her, ohne sich ziehen zu lassen, vielleicht waren sie über das Ungewohnte der nächtlichen Reise so verblüfft, dass sie vergessen hatten, dass sie eigentlich auf einer stillen Wiese hätten liegen sollen und gemächlich wiederkäuen …
Aslan schritt kräftig aus, er fühlte sich auf seltsame Weise gut aufgelegt, da war etwas durchbrochen, das allzu Normale, sie waren wieder unterwegs, und waren mehr auf sich selbst gestellt als sonst, und das war gut … er schritt aus, ohne sich umzusehen, vielleicht war es auch das, was ihn so fröhlich machte: er stellte sich vor, allein zu sein, allein zu wandern, einsam und, ja, auf sich selbst gestellt, aber auch nur sich selbst verantwortlich.
Halbbewusst wanderten seine Gedanken zurück zu der Zeit, da er als Kiepenhändler die Wälder durchstreift hatte. Damals … damals war er ein Nichts gewesen, ein Niemand, er hätte verlorengehen können auf den Wegen, wie es vielen geschehen war und geschah, und niemand hätte es bemerkt, niemand hätte sich um ihn besorgt, Grand Mère einmal ausgenommen, aber die war damals noch in der großen Stadt, bei Leuten, mit denen sie sich gut vertrug … ihr Sohn wäre eben eines Tages nicht wiedergekommen, sie hätte sich schon getröstet, das war eben Menschenlos.
Allein sein, ganz allein, einmal ganz allein …
Jetzt fuhren sie mit ihm, eine Familie, und er war für sie verantwortlich, verantwortlich. Wenn es das nur gewesen wäre! Aber sie hingen auch an ihm, hielten ihn fest, es gab Zeiten, da er sich wie gefangen vorkam, gefangen und gefesselt, so war das in des unseligen Dietrich Haus gewesen, bei den Verrückten, festhalten wollen hatten sie ihn.
Und die Wagen … ja, das war Besitz, Wohlhäbigkeit, nicht wenige gar nahmen es für Reichtum. Ach, wenn sie wüssten … wie es einem am Bein hing. Besitz, Eigentum, das verlangte Pflege und stete Bekümmerung, die Gedanken hatten einen Ort, darum sie kreisen mussten, ob sie wollten oder nicht, und eigentlich wollten sie ja nicht.
Vielleicht war Roger besser geeignet für das Leben als Kaufherr, das mochte seltsam erscheinen, denn Aslan war doch der mit dem ruhigen Sinn, der die Entscheidungen zu treffen wusste, der den sicheren Blick hatte … aber Roger besaß ein leichtes Herz, die Dinge lasteten nicht auf ihm, er nahm sie in Angriff, wie sie kamen, und brachte sie hinter sich. Wäre es nach ihm gegangen, unterlägen die Wege seiner Entscheidung, so hätten die Kaufleute, alles in allem, weniger ihr Glück gemacht, aber vielleicht wäre ihr Sinn leichter, ihr Leben unbekümmerter … Aslan wusste es nicht, er grübelte, ohne recht auf seine Gedanken achtzugeben, hinter den Gedanken, da war das Ziel, da waren die Bilder der Wege …
Als er noch allein war. Oft waren Tage vergangen, ohne dass er einen Menschen sah, und das war gut. Ganz allein war er gewandert in den Wäldern, auf überwachsenen Pfaden, das Dickicht verschlang ihn, er war gewandert, ohne zu wissen, ob da ein Ziel war am Ende des kaum zu erkennenden Weges, und es hatte ihn nicht beunruhigt.
Nein, nicht beunruhigt. Eher hatte eine sonderbare Leichtigkeit ihn erfüllt, als wäre ein währender Druck von seinem Herzen genommen – als wäre er frei.
Frei.
Ja, das war es. Er war gewandert, und auf diesen Wanderungen hatte er sich in einem Schwebezustand befunden, der war seltsam, ungesucht und voll der verzehrenden Glücks. Ungesucht? Wer kann es wissen …
Nie hatte dieses Glück ihn besucht (besucht versucht heimgesucht, er wusste es nicht), wenn er sich auf den gebahnten Wegen bewegte, einen Ort hinter sich, sicher gewiesen zum nächsten, auf unverlierbarem Pfad. Dort war nur Wanderung gewesen, eine Strecke eben, die er hinter sich zu bringen hatte, auf der er auch anderen Menschen begegnen mochte, um mit ihnen ein Stück des Weges zu gehen, Nachrichten und Erfahrungen auszutauschen. Nicht, dass ihm das missfallen hätte, nein, es war schön auf eigene Art, von einer leichten Unverbindlichkeit, man traf die Menschen und verließ sie wieder …
Roger. Das war der Unterschied. Roger hatte das gleiche Leben geführt, später als Aslan natürlich, zu einer Zeit, da dieser schon Besitzer eines Wagens war, und Inge heranwuchs, er hatte also das gleiche Leben geführt, und er hatte es geliebt, vielleicht ebenso stark geliebt wie Aslan, aber auf eine grundverschiedene Weise. Er hatte es geliebt, weil es seinem Bedürfnis nach Leichtigkeit entgegenkam, nach Unverbindlichkeit auch und Heiterkeit, er liebte die Fülle der Dinge, die ihm begegnete, und all die Menschen, die er traf, all die Frauen zumal, all die kurzen Begegnungen (von zärtlicher Flüchtigkeit), er liebte dieses Leben des Fahrenden, weil er die Dinge liebte und nicht genug von ihnen bekommen konnte.
Aslan hingegen, er liebte dieses Leben, weil ihn die Dinge belasteten, und er sie nicht schnell genug fliehen konnte. Eine bittere Wahrheit. Die Dinge, die Menschen belasteten ihn, drängten sich in seine Gedanken, zwangen ihn zur Beschäftigung, zum Grübeln, bis eine Spannung in ihm emporwuchs, eine Spannung bis zur Unerträglichkeit, und ihn bestimmte verleitete zwang zu fliehen, zu fliehen hinaus auf die Wege.
So war das. Roger liebte die Wege aus Leichtigkeit, Aslan aus allzu großem Ernst.
Aslans Liebe aber war die verzehrende, unerbittliche, denn sie gründete in Bedürftigkeit.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 30.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)