Erinnerung

Die Erinnerung an das Warten quälte die Überlebenden am meisten. Wie sie hatten ausharren müssen in den stinkenden Kellern, wie das Knarren und Quietschen der Eisentüren sie aufgeschreckt hatte, wie sie gewartet hatten auf das Rufen der Namen. Ist jetzt meiner dabei? Der Name meiner zwölfjährigen Tochter, die sich an meinem verschissenen Kleid festklammert in der Finsternis?

Eine Straße weiter die siegreichen Revolutionäre, grölend vor Suff und Geilheit.

Von dem Warten konnten sie reden, die Überlebenden, von dem Warten und dem Aufgerufenwerden und dem Geholtwerden, zu den Verhören, wie es in den Briefen gern hieß. Editoren der vielfach schon gedruckt vorliegenden Briefkonvolute hatten es nicht kommentierenswert gefunden, dass die Revolutionstribunale und die revolutionären Untersuchungskommissionen offenbar gerne nach Mitternacht getagt hatten, so dass die Gefangenen durch nachtstille Straßen gekarrt wurden. Fraglos waren die Straßen nachtstill gewesen, was sonst, es herrschte ja Ausgangssperre. Ausgangssperre für alle, nur nicht für die siegreichen Revolutionäre und die städtischen Gauner und Ganoven und Diebe und Halsabschneider, die in ihrem Dienst standen. Die Diebe kamen immer gut weg und blieben immer Diebe, von einem Regime zum nächsten.

Die alten Frauen schrieben: Als ich geholt worden bin, als ich zum Verhör geholt worden bin, als ich dann zurückgebracht wurde. Wir haben das durchgemacht, wir haben das durchgestanden, wir wissen, wovon wir reden.

Manche der Frauen waren fromm oder wurden es im Alter, Gott hat uns das auferlegt, schrieben sie, wir müssen das tragen.

Von wenigen wusste man seit jeher, was ihnen widerfahren war, da war diese sehr junge sehr schöne Aristokratin, deren Mann gleich zu Beginn der Revolution über Meer geflohen war, und die ihm nachreiste, als Dienstmädchen verkleidet, und noch im Hafen entlarvt wurde und verhaftet und an Ort und Stelle vergewaltigt, fünf Revolutionäre taten sich an ihr gütlich, Freiheit! brüllend, und Gleichheit! und Brüderlichkeit! und wunderbarerweise ließen sie sie danach laufen, sie konnte das Schiff besteigen, und als sie auf der anderen Seite des Meeres ankam, berichtete sie, was ihr geschehen war, damit man wisse, was von der Revolution und den Revolutionären zu halten war.

Aber das war eine Ausnahme gewesen, die meisten Opfer hatten geschwiegen, wie das Opfer zu allen Zeiten taten und allerorten.

Hatten geschwiegen und gelitten und nicht vergessen, hatten gelitten unter der Erinnerung bis ins hohe Alter. Gelitten fast mehr als unter der eigenen Entwürdigung unter der Erinnerung an die Machtlosigkeit, mit der sie hatten mitansehen müssen, wie wehrlose Mädchen abgeholt wurden, Mädchen, die nach der Sitte der Zeit in blanker Unwissenheit aufgezogen worden waren und nicht wussten, was sie erwartete. Manch eine Überlebende weinte noch als alte Frau im Gedanken an diese Kinder.

Jungfrauen. Danach lüstete die Revolutionäre besonders.

Nach getaner abendlicher Kommissionsarbeit noch eine Jungfrau deflorieren! das war Macht! das war Steile! das war regierende Potenz! das war das Hocherweck! das war revolutionäre Aktion!

Die Aristokraten ficken! Die Frauen der Aristokraten ficken! Die Töchter der Aristokraten ficken! Die kleinen Jungfrauen aus den Gefängnissen holen und sie ficken, indes die zurückgebliebene Mutter weiß, was mit der Tochter geschieht! Das ist Macht! Grölende lodernde revolutionäre Macht!

Sie konnten die Abende gar nicht erwarten, die Revolutionäre, die Abende der Kommissionsarbeit, und danach die Entspannung.

Das braucht der Revolutionär: Entspannung. Die hat er sich verdient.

Schlief in den seidenen Betten der entmachteten Aristokraten, der Revolutionär, warf die Kinder der Aristokraten aufs Bett, oder auf den Fußboden, besprang das frische Fleisch.

Macht maß sich bald an der Zahl der Entjungferungen, sie prahlten, wie viele Kinder sie in der Nacht rangenommen hatten, manche erfreuten sich auch an der Zartheit der kleinen Jungs, steil regierten sie über die unterworfenen Glieder.

Waren Revolutionäre, der Brillante konnte die Namen zuordnen, die spezialisierten sich auf die Vergewaltigung von Nonnen, je jünger desto besser, am allerbesten Nönnchen aus aristokratischen Familien. Schnitten ihnen nach erfolgtem Akt die Gurgel ab. Wer fragt nach Nonnen. Die nächste!

Das Gesicht des Brillanten wurde härter während seiner Arbeit, er fragte nicht mehr so viel in seiner Umgebung, sondern gab Weisungen. Kam er in ein Archiv, wusste er genau, wonach er suchte, was er wollte, seine Zielstrebigkeit fiel auf.

Über die Revolution also arbeiten Sie? wurde er gefragt. Findet man denn da noch was Neues? Das ist doch längst abgegrast!

Alles eine Frage der Perspektive, sagte er trocken.

Und dachte: Sie verdienen keine Schonung mehr, die Viehgeburten der Revolution.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 29.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)