Indizien

Er studierte Geburtsdaten. Nicht die offiziellen Register. Fertigte sich Listen von Kindern an, die im Umkreis von Adelsfamilien aufwuchsen, im Umkreis überlebender Adelsfamilien, nach der Revolution. Kinder der aristokratischen Frauen, vor allem aber Kinder, die Dienstmädchen zugeschrieben wurden, ob sie es nun waren oder nicht. Kinder angeblich unbekannter Herkunft, die im Umfeld adliger Familien aufwuchsen, in der Gesindestube, für deren Weiterkommen aber auffällig gesorgt wurde. Wann waren die Familien im Gefängnis gewesen, wann waren die Frauen im Gefängnis gewesen, wann waren die Kinder geboren worden? Immer wieder stellte sich ein der passende zeitliche Abstand, mit geradezu lachhafter Erwartbarkeit.

Sie haben immerhin die Bevölkerung des Landes gemehrt, die Revolutionäre, sagte bissig der Brillante.

Die Revolutionäre. Der viehbrülle Volkstribun, der feingepuderte Jurist, der Demagoge, der Ankläger, der Schläger, der Folterherr, all die gestiefelten Knechte, die Gröler und Machthaber, sie waren alle beteiligt gewesen, sie hatten alle mitgemacht, sie hatten sich bedient, Revolution, das war für sie die Erfüllung purer Geilheit gewesen, ausgelebter Trieb, jodelnde Brunst. Suff an den brennenden Abenden der Revolution, und nachher wurden die Büttel ausgeschickt, aus den Gefängnissen Frischfleisch zu holen. Das Fleisch wurde gebracht, direkt ins Haus, ins gestohlene Haus, und dort von den Revolutionären steil bemacht, nach Gusto und Laune und persönlichem Wohlgefallen. In der Hauptstadt, in den Provinzen, in den Regionen. Überall. Jeder Revolutionär ein Vergewaltiger, jeder Einzelne. Jeder Stadthauptmann, jeder General der Revolutionsarmeen. Wer das Abzeichen der Revolution am Hut trug, der hatte den Freibrief zum Vergewaltigen. Es gab keine Hemmungen mehr. Man hatte vor dem Töten keine Hemmungen, warum sollte man Hemmungen haben vor dem Vergewaltigen? Der revolutionäre Machthaber war Machthaber auch insofern, als er sich aus dem gebotenen Frauenfleisch aus dem gebotenen Kinderfleisch nehmen konnte, wonach ihn lüstete.

Der Brillante dröselte die Fäden zusammen. Las sich durch die Memoirenliteratur überlebender Frauen, vor allem aber durch endlose Briefkonvolute, geschrieben von alten Frauen Jahrzehnte nach den Ereignissen. Briefe von Frauen an Frauen. Briefe von Frauen, die in ihrer Jugend, als Kinder wohl noch gar, im revolutionären Gefängnis gewesen waren und überlebt hatten. Jetzt, als Greisinnen, schrieben sie einander Briefe und flochten Andeutungen ein, was ihnen widerfahren war. Sie verständigten sich, sie wussten Bescheid, die eine wusste, wovon die andere redete.

Sie schrieben umkreisend, umschreibend.

Sie hatten alle eines gemeinsam: sie wurden von der Erinnerung gepeinigt, aber nicht von der Erinnerung an den demütigenden Akt selbst.

Denk immer daran, schrieb eine ihrer alten Freundin, wir haben damals unsere Würde nicht verloren. Mit unseren Körpern kann die Welt machen, was sie will, nicht aber mit unseren Seelen. Was dem Leib angetan wird, mindert nicht seine Würde. Der Leib, der dulden muss, verliert nicht seine Würde. Wer Macht ausübt über den Leib und sich am Leib vergeht, der ist es, der seine Würde verliert.

Welch zerstreuter Leser solche Sätze las, vielleicht, damals, unbefugt mitlas, der mochte sich denken, was er wollte, konnte darin die kühle Überlegenheit einer alten Aristokratin lesen über einstige Gefängniswärter, die die Gefangene zu beugen nicht vermocht hatten.

Im Lichte der Findungen des Brillanten konnte man auch etwas ganz anderes darin lesen.

Wenn sie nachts wach lagen, die Überlebenden in ihrem Alter, dachten sie nicht an den schmählichen, den niederwerfenden Akt, sonderbarerweise nicht. Sie dachten an die Zeit des Wartens davor, und sie dachten daran, immer wieder, dass die Zurückbleibenden, während sie nächtens weggeholt worden waren, schweigend im Keller gewusst hatten, was mit ihnen geschah. Sie waren zurückgebracht worden, Gesicht aus weißer Kreide, und man hatte gemeinsam geschwiegen, und gemeinsam gewusst. Niemand hatte gefragt, was ist dir angetan worden? Darüber zu reden, hätte die Schmach noch gemehrt. Man rückte zusammen. Die Männer bissen die Zähne zusammen und schwiegen. Die Köpfe der Männer rollten unter dem Hackebeil, ihre Frauen wurden vergewaltigt. Die Revolutionäre genossen ihren Steifen.

Das Menschtier ist es nicht wert, auf dem Planeten zu leben.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 27.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)