Was machst du eigentlich da unten? fragte die kleine Freundin immer dringender.
Sie waren drei Jahre zusammen, da sagte er: Ich habe einen Verdacht, aber du musst schweigen.
Was für einen Verdacht?
Sie haben systematisch die Gefängnisse als Bordelle benutzt. Alle. Alle Machthaber der Revolution, ohne Ausnahme. Sie haben die Gefangenen holen lassen und haben sich bedient. Sie haben vergewaltigt und gemordet. Es war der geheime Motor hinter den Bewegungen der Revolution. Sie kamen abends zusammen, die Mächtigen, kamen zusammen in den gestohlenen Wohnungen der Entmachteten, redeten und soffen, zählten auf, wen sie entmachtet hatten des Tages, wen sie des anderen Tages entmachten wollten, sie soffen und planten schon, einander das Messer in den Rücken zu stoßen, sie prahlten, wessen Geld wessen Besitz wessen Pferde und Equipage sie gestohlen hatten, und dann schickten sie aus nach den Gefängnissen und ließen sich Frischfleisch bringen und taten und besprangen.
Die kleine Freundin schlug die Hand vor den Mund. Kannst du das beweisen? fragte sie.
Ich bin dabei, sagte er. Das bleibt unter uns.
Die kleine Freundin war ein gutes Mädchen, es blieb unter ihnen, aber sie hatte Angst. Sie hatte in der Schule noch gelernt, Revolution war Heldenzeit. Man kannte die Bilder die Büsten der großen Häupter, die nicht selten in den Korb unter dem Hackebeil gefallen waren. Keine Helden das? Alles bloß schmutzige, besoffene Vergewaltiger? Tiere?
Der Brillante reiste hinaus ins Land, erkundete regionale Archive. Immer zielsicherer. Immer genauer wusste er, wonach er zu suchen hatte. Er geriet in einen Rausch der Feinarbeit. Er konnte Daten zusammenlegen. Die elektronischen Spielzeuge halfen, glichen automatisch Listen ab, legten Dateien übereinander, ließen Muster hervortreten. Die Muster von Daten und Terminen. Daten, an denen sich machthabende Revolutionäre abendlich getroffen hatten, zum Teil waren die Küchenzettel erhalten, man konnte nachlesen nach Jahrhunderten, was alles aufgetischt worden war, oder Augenzeugen erinnerten sich später, erinnerten sich vor allem an die ungeheuren Mengen von Flaschen, die beitransportiert worden waren, Flaschen aus den wohlsortierten aus den ausgeraubten Kellern der Adligen, oder der frisch entmachteten Revolutionäre. Kopf ab, und der Inhalt des Weinkellers weiterwandernd auf den Tisch des nächsten Siegers. Auf die Daten kam es an. Politik wurde verhandelt zu solch nächtlichen Besäufnissen, die Geschicke des Landes gelenkt, grölend kam man überein, fertigte hastig Dokumente aus, von leidlich nüchtern gebliebenen Schreibern entworfen. Datum, Uhrzeit, prahlerisch hingeworfene Signatur. Und dann, Datum, Uhrzeit, Bewegung in den Gefängnissen der Nachbarschaft. Transport. Rasselnde Karren durch die Nachtstraßen, rapportiert von den Straßenwachen, mit Datum, Uhrzeit. Irgendwann konnte der Brillante die Termine der Besäufnisse und die Termine des Karrenrollens hundertfach in Konkordanz bringen, er konnte bereits Vorhersagen wagen: wenn dort eine revolutionäre Zusammenkunft stattfand, Zusammenkunft der revolutionären Machthaber in einem gestohlenen Adelspalais, dann würde zur selben Nacht sich Bewegung ergeben in den Gefängnissen, die der Botmäßigkeit der jeweiligen revolutionär machthabenden Faktion zuzurechnen waren. Er suchte gezielt, und fand, wieder und wieder. Er begann, seinem Doktorvater lange Listen vorzulegen, Listen mit Terminen und Daten und Namen, abgeglichene Listen.
Du wirst dich damit nicht beliebt machen, sagte der Doktorvater.
Ich habe die Beweise, sagte der Brillante. Selbst vor einem heutigen Gericht würden die als Indizien akzeptiert werden.
Es gibt keine Berichte, sagte der Doktorvater.
Das ist ja der Punkt, entgegnete der Brillante. Vorgänge, über die selbst die Opfer geschwiegen haben, aus Scham, erzeugen keine Berichte, nur Spuren. Führt man alle Spuren zusammen, verdichtet sich das Bild.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 25.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)