Überwachsen

Städte liegen vergraben in den Wäldern, Städte und Dörfer, das Gebüsch hat sich über ihnen geschlossen, der Wind und Regen die Dächer abgedeckt, Bäume wurzeln in den Straßen, den Plätzen, den Häusern.

Überkommen hat der Wald die Städte, die Dörfer, und nicht mehr zu finden ist ihre Stätte.

Verloren sind die Wege: Flüsse haben sie unterspült, abgebrochen ihren Lauf, aufgespalten haben die Gräser und Moose, die Blumen und Sträucher die Wegdecken, Bäche haben sich neues Bett gesucht und den Schutt hinweggespült, Brücken sind fortgeschwemmt worden, und vergangen, verschwunden also sind die Wege zu den Städten.

Das Auge des Kundigen bemerkt wohl noch Spuren, Veränderungen des Bewuchses, Brennnesseln und Schafgarbe auf Waldlichtungen; doch wer wollte den Spuren folgen, sich durch das Dickicht schlagen, und wozu? Auch gibt es der menschlichen Bewohner des Waldes nicht viele, ein kärgliches Dasein fristen sie, viele kommen um, oder wandern ab in bewohntere Gegenden.

So verschluckt der Wald die Städte, überrennt sie, nachdem vorgeschickte Posten lange ihr Werk getan, Wegwarten und Beifuß, Rainfarn, fingerblättrig, und die seltsam rötlichblauen Blüten des Eisenkrauts, und Mohn und Kamille und der gelbblühende Ackersenf, mit länglichrunden Blättern und schmalen Fruchtschoten; und silbergraue Birken folgen, und dann Weiden, und Haselnusssträucher, und schließlich schließen die Eichen und Ulmen und Linden den Kreis.

Keine Wege gibt es mehr zu den Städten und Dörfern, versunken liegen sie wie unter einer Meeresflut; folgt einer seinem verirrten Weg querwaldein, so findet er sich vielleicht plötzlich vor baumüberwachsenem Gehügel, muss achten, nicht in Gruben zu stürzen, verdeckt durch Brombeergerank; und der Efeu mag den Blick freigeben, unerwarteten, auf bröckelnde Mauerreste, Erde schon fast, zerfallend. Und im rauschenden Wald kann einer stehen und um sich blicken und dessen gewahr werden, dass hier eine Stadt war, und dann findet er vielleicht, in geschärfter Aufmerksamkeit, die Mauern im Gesträuch, die Kellerlöcher, findet den alten Lauf der Straßen, sieht, wie sich die Bäche ihren Weg gebahnt hatten durch Straßengräben, durch die Folgen eingesunkener Keller, tief eingeschnitten sind sie dann oft, dann wieder gehemmt im Lauf durch Ketten spiegelnder Teiche. Und Stellen findet der Verirrte, da die Pflanzen den Widerstand des Geschaffenen noch nicht gebrochen haben, Gewölbe stehen noch aufrecht, umschließen dunkle Räume, die bieten den Pilzen Aufenthalt; und Schutz kann hier einer suchen, vor dem Wetter, vor wilden Tieren, so seine Angst vor den Geistern des Ortes nicht die Angst vor der Wildnis überwiegt.

Aber kaum geschieht es, dass einer sich hierher verirrt; oder dass ein Verirrter zurückkäme, dass er erzählen könnte. Eilig schleichen die Menschen sich entlang der gebahnten Wege, der wenigen, die lange Kunst des Aufspürens und Suchens angelegt hat, schleichen und hasten und suchen, bewohnte Gegend zu gewinnen: kein Ort des Aufenthalts sind die Flusswälder, nur einer des Durchganges, des hastigen Verlassens.

Mühselig war das Werk der Wegesucher gewesen, gewunden und irrend ihre Versuche, vieles hatte im Blinden geendet, Wasserläufe hinderten den Weg, undurchdringliches Gestrüpp, Grabenbrüche; doch was nun gefunden ist, das ist gut, dem folgen die Reisenden, mit ängstlichem Blick, umschwiegen von den Wäldern, aus denen späht die Unzahl sichernder Augen, man spürt sie im Nacken, doch wenn man auf dem Absatz herumfährt, mit gepresstem Atemstoß, dann ist da nichts, gar nichts, nur das Rauschen der Baumwipfel, und Gluckern und Plätschern in den Sümpfen und Wasserläufen. Und die Tiere rufen, die Vögel zumal, auch das warnende Gebell der Rehböcke ist zu hören.

Die Städte im Wald, die Dörfer: vielen sind sie Aufenthalt, den Füchsen und Mardern, den Mäusen und Siebenschläfern, den Totengräbern und Hirschkäfern, den Ameisen und Spinnen, gelegentlich auch wohnt ein Bär in einer erhaltenen Höhlung; und Vögel gibt es ohne Zahl, Elstern und Spechte und Finken und Meisen, und Auerhühner trappen schwer durch’s Unterholz, kollernde und gluckernde Laute ausstoßend.

Die Städte und Dörfer im Wald, einen tiefen Schlaf schlafen sie, den wird nie wieder einer wecken.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 22.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)