Wärter und Gefangene

Kein Gedanke, sich dem Wärter zu widersetzen. Gefangene und ihre Wärter, Befehl und Gehorsam.

Der Brillante sah es sich regen im Finsterhaufen, und eine junge Frau kroch hervor, kräuselige schwarze Haare und braune Augen und Haut von mattem Weiß, kaum dunkler als Milch, und ebenso weich.

Der Laternenträger winkte mit dem Finger, Gefangene haben zu gehorchen auf Fingerwink, und die junge Frau sah sich noch einmal um, sah sich um mit leeren Augen, bevor sie dem Funzelschein hinterher im Korridor verschwand.

Der Brillante saß und rang die Hände, er wusste nicht, dass er das tat, irgendwann trat jemand auf ihn zu und fragte, ob alles in Ordnung sei mit ihm.

Nichts war in Ordnung.

Es dauerte Stunden, bevor die Kräuselhaarige zurückkehrte. Gleiches Spiel, Funzelschein der Laterne, Kreischen der Gittertüren. Die junge Frau trat herein zu den Gefangenen, und selbst im Flackerlicht war zu sehen, dass sie bleich war. Totenbleich. Sie mischte sich schweigend unter die Schweigenden, zur Unsichtbarkeit. Niemand redete. Niemand würde jemals reden.

Niemand würde jemals reden, murmelte der Brillante.

Abend für Abend würde das so gehen, Nacht für Nacht, der Name einer „Bürgerin“ würde gerufen werden, und vielleicht noch einer und noch einer, manchmal zehn in einer Nacht. Junge Frauen, Dienerinnen, oder junge Aristokratinnen, Ehefrauen, Schwestern von Aristokraten, oder deren Töchter, Kinder noch zuweilen. Wenn der Name eines Kindes aufgerufen wurde, würde man vielleicht einen erstickten Schrei hören, unterdrücktes Jammern, Schrei der Mutter, oder der hütenden älteren Schwester. Sie würden gerufen werden, sie würden gehen, schweigend, ohne Gegenwehr. Fast jede würde noch einen Blick zurückwerfen, bevor das Gitter sich schloss, bevor sie dem Menschenwärter folgte. Würde sich umblicken mit leeren Augen, die Aufgerufene, und dann im Gang verschwinden. Nach Stunden würde sie wiederkommen, Gesicht die Farbe von weißer Kreide, und sie würde sich wortlos mischen unter den schweigenden Dunkelhaufen, und niemand würde reden.

Niemand würde jemals reden.

Der Brillante sah es. Er wusste, so ist das gelaufen. Er wusste es mit kalter unwiderruflicher Gewissheit.

Ich finde das raus, sagte er laut zu sich selber, ich finde das raus, und wenn es das letzte ist, was ich tue.

Und dann weinte er. Saß da unten in seinem beleuchteten, wohlventilierten Keller, saß, den Schein der elektronischen Bildschirme im Gesicht, saß, den Staub der Dokumente an den Fingern, und weinte. Ein scharfer Schmerz schnitt sein Herz mitten entzwei, verhindern, dachte er. Zurückgreifen in die Zeit und verhindern, was da geschah.

Er schnäuzte sich, wischte sich die Augen, dachte nach.

Er sah die Schwierigkeiten.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 21.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)