Warum siehst du mich so seltsam an? fragte seine kleine Freundin, wenn sie des Abends durch die Stadt wanderten, durch die Stadt, die niemals schlief.
Die kleine Freundin hatte kräuselige schwarze Haare und braune Augen und Haut von mattem Weiß, kaum dunkler als Milch, und ebenso weich.
Sie kam aus dem Süden des Landes.
Er sah sie seltsam an, der Brillante, weil er dachte, was wäre, wenn.
Es könnte eine wie sie da unten in dem Keller gewesen sein, gefangen. Ein Dienstmädchen vielleicht? Eine Kammerzofe. Aufgewachsen in den Salons und Boudoirs ihrer Herrschaft. Voll gelehrig aufgeschnappter Bildung, die Töchter der Aristokraten hatten Unterricht zu Hause erhalten, die Kammerkätzchen waren immer um die Wege gewesen, hatten mitgehört.
Du hättest dort sein können, dachte der Brillante, oder eine wie du.
Wie Historiker häufig, sah er in begegnenden Menschen gern den Typus, glich Studenten im neuen Land ab mit solchen, die er im alten gekannt hatte, der sieht ganz genauso aus wie der, dachte er, oder: die sieht aus wie die.
Manchmal machst du mir Angst, sagte die kleine Freundin.
Es war aber der Brillante, der Angst hatte.
Angst da unten im Keller.
Für eine Zeit vergaß er seine Archivalien, wiewohl er saß und sie las, er las sie und achtete ihres Inhalts nur mechanisch. Viele Schriftstücke kannte er, es war ja fast alles schon gedruckt, er ging die Listen durch, Listen von Gefangenen. Er hörte das Murmeln ringsum, er sah die Dunkelheit, er fühlte seine Zunge kleben am Gaumen, die faulende Luft erstickte ihn.
Dann hörte er das Scharren und Kreischen von Eisen, das war die schwere Verschlusstür die Kellertreppe hinauf am Ende des Korridors, und er sah Funzelschein herbeischwanken, und eine Laterne erhellte das eiserne Gitter, das den einzigen Zugang zu den Gefangenen verschloss. Hundert Augenpaare gerichtet auf den Lichtschein, hundertfaches Schweigen, und der vermummte Laternenträger krächzte und befahl: Die Bürgerin —
Er nannte den Namen, nannte ihn auf eine Weise, die den Aufmerkenden sagte, er sprach nach, was ihm gesagt worden war, er konnte nicht lesen.
Es ist ein Graben zwischen den Menschtieren, die lesen können, und denen, die dazu nicht vermöge sind. Die lesen können, haben keinen Begriff mehr davon, wie das ist, wenn einer alle Worte nur nach Gehör spricht, und kein einziges davon jemals gelesen hat, von keinem einzigen Wort weiß, wie es geschrieben oder gedruckt aussieht.
Hier im Keller hatten die des Lesens Unkundigen die Macht über die Gebildeten. Absolute Macht. Die Macht des Gefängniswärters. Es bereitete den Gefängniswärtern besonderen Genuss, die gefangenen Aristokraten mit „Bürger“ oder „Bürgerin“ anzureden, ihr seid auch nicht besser als wir, war die Botschaft hinter solcher Anrede. Von alters her halten die Ungebildeten unter den Menschtieren Bildung für eine bewusste Machination der Gebildeten gegen die Ungebildeten. Lesenkönnen als Anschlag. Die zierliche Aussprache als Demonstration. Der redet nur deshalb so fatzkig, um mir zu zeigen, dass er was Besseres ist. Das Menschtier redet allezeit gern von der Arroganz der Gebildeten, und wie sie auf die Ungebildeten hinabsähen. Von der Arroganz der Ungebildeten, die vorweg jeden Gebildeten für hochmütig erklären, redet es nicht. Redet nicht von der Rachsucht der Ungebildeten. Redet nicht von dem gewohnheitsmäßigen Hohn. Der ist auch bloß nackt unterm Hemd. Bildung ist schuldhaft, Lesenkönnen ist schuldhaft, das machen die alles bloß, um uns zu zeigen, dass sie was Besseres sind.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 19.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)