Nackte Mauern

Die globale Gesellschaft nach dem religiösen Wandel unterschied sich von früheren Gesellschaften wesentlich darin, dass sie bewegliche Gesellschaft war, und zwar bewegliche Gesellschaft aus Grundsatz.

Die meisten früheren Gesellschaften, so habt ihr jetzt verstanden, waren traditionalistisch gewesen und konsensbestimmt, sie sagten: was sich gestern und heute bewährt hat, an dem ändern wir morgen besser nichts. Oder sie waren Ideokratien gewesen und zwangsgenormt, und hatten gesagt: Wir sind die Guten, wir haben endlich die richtige Idee, nach der gestalten wir die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit ist dann das Paradies auf Erden, da muss sich nie wieder was ändern.

Die Menschen nach dem religiösen Wandel hatten das alles satt, so satt, es ist nicht zum Sagen. Sie wollten die bewegliche Gesellschaft, die Gesellschaft, die in der Lage ist, auf die immer bewegliche Wirklichkeit angemessen sich einzulassen. Sie wollten den freien Markt, um dort Gesellschaft und Wirklichkeit zu verhandeln, wie es die Erfahrungen und der neue Tag je eingaben. Das wollten sie, wollten sie ernsthaft.

Zur Zeit, da der Brillante im Straßencafé saß und die Hand seiner kleinen Freundin hielt, war die öffentliche Kritik an Hochgeleucht und Ideokratie ziemlich weit fortgeschritten, so weit, dass sich auch im Hirn der Menschen, so durch die Gassen schoben, ernsthafte Zweifel schon festgesetzt hatten. Und mit den ernsthaften Zweifeln war auch die Bereitschaft gekommen, auf neue Stimmen zu hören.

Der Brillante ging am nächsten Tag wieder hinunter ins Archiv. Lange Tage tat er so. Wochen. Sah an die nackten Mauern. Die Mauern waren nackt nicht aus Armut des Staates, sondern aus ästhetischen, aus denkmalpflegerischen Gründen. In der alten Heimat des Brillanten hatte er in Kellern gesessen, die waren tief hinunter in den gewachsenen Fels gehauen worden, gewaltige Kavernen, darin hatte der Wein in riesigen Fässern seiner Reife entgegengealtert. Unter der revolutionären Hauptstadt gab es kein Grundgestein, nur Schwemmsand. Der Boden war durchzogen von Mauern, Mauern jeden Alters jeder Befindlichkeit jeder Größe. Hüteten Korridore, die waren längst verschüttet, oder vergessen. Hier im Archivkeller waren die Mauern fünfhundert Jahre alt und älter, reichten weit zurück in die Zeiten des alten Regimes. Die legen wir frei, hatten die Restaurateure gesagt, die werden gereinigt und schonend ausgebessert, aber nicht verputzt, das wäre Barbarei, die sind Zeugen, die haben die Jahrhunderte gesehen.

Sie hatten auch die Gefangenen der Revolution gesehen, nicht zuletzt die gefangenen Frauen. Der Brillante saß an seinem Schreibtisch und starrte auf die nackten Ziegel. Sie waren sandgelb, löwengelb, matter Schimmer nur im sanft gelehrten Schreibtischlicht. Licht, das hatten die Gefangenen nicht gehabt, bestenfalls war ihnen eine Kerze verstattet worden, Unschlittkerze für den ganzen Keller. Die Kerze hatte nicht im Keller gestanden, sondern davor, vor der vergitterten Tür. Die Kerze hatte gefunzelt, aus Luftmangel. Auch die Gefangenen hatten der Luft ermangelt, sie waren nicht erstickt, das Menschtier erstickt nicht so schnell. Sie hatten dicht gedrängt hier unten gesessen, Rücken an Rücken, einander zwischen den Beinen, hatten sich Spiele ausgedacht und hatten in fremden Sprachen gesprochen, denn sie waren gebildet, die Gefangenen, und außerdem saßen Spitzel unter ihnen, wie in allen Gefängnissen. Für die Notdurft der Hundert ein stinkender Eimer, nach dem war zu tasten in der Finsternis. Am Tag eine Schöpfkelle voll fauligen Wassers, für einen jeden. Die Gefangenen wahrten Haltung, das sind wir uns schuldig, wussten sie, sie sagten es nicht, es verstand sich von selbst.

Hocherwecktes Gefängnis, für die Gegner der Revolution, für die Feinde, für die Aristokraten, die schuldig waren, als Aristokraten geboren zu sein.

Der Brillante sah an das Mauergeziegel, und schnappte nach Luft. Enge. Finsternis.

Die konnten nichts von mir wissen, dachte er, konnten nicht ahnen, dass man nach Jahrhunderten noch an sie denken würde, konnten nichts wissen von elektrischem Licht, das beleuchten würde die Höhle ihrer Gefangenschaft, konnten nichts wissen von Toiletten und fließendem Wasser hier unten. Die konnten nichts wissen von mir, ich weiß von ihnen. Verpflichtung.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 17.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)