Überwertige Idee

Das Verhältnis des Menschtiers zur Wirklichkeit unterscheidet sich nicht groß von dem aller anderen Geschöpfe, es bestimmt sich wesentlich als Ergriffenheit, danach erst als Ergreifen. Infolgedessen steht jedes geschaffene Wesen der Wirklichkeit gegenüber immer als einem Mehr. Das geschaffene Wesen ist winzig, die Wirklichkeit überbordend. Die Wirklichkeit ist das Mehr der Ergriffenheit und ebenso das Mehr der Ergreifbarkeit. Das Menschtier ist immer schon ergriffen von der Wirklichkeit weitaus mehr als es ahnt, und draußen in der Wirklichkeit ist immer unendlich viel mehr zu ergreifen, als das Menschtier selbst bei ausgespannstestem Willen sich denken könnte. Wenn das Menschtier sich selber erkundet, findet es sich allenthalben ergriffen von Wirklichkeit, und entdeckt immer neue Bereiche neue Kontinente der Ergriffenheit, Länder des Selbst, von denen es keine Ahnung hatte. Wendet es sich hinaus, findet dasselbe Menschtier allüberall die überfließenden Regionen der Ergreifbarkeit. Da ist niemals ein Ende. Die Wirklichkeit ist immer das Mehr.

Die Wirklichkeit ist immer das Mehr, die Wirklichkeit ist den Wesen immer voran und voraus, und wenn die Wesen agieren in der Wirklichkeit, ist ihr Handeln Kompromiss, ist Kompromiss notwendig und wesenhaft. Alle geschaffenen Wesen, das Menschtier eingeschlossen, setzten sich mit der Wirklichkeit ins Verhältnis, und die Wirklichkeit erlaubt den Wesen Kompromisse, nach ihren Regeln. Die Wirklichkeit setzt die Regeln. Und wenn es ihr gefällt, ändert sie die Regeln, mitten im Spiel. Die Wesen beobachten die Wirklichkeit, um nicht zu sagen, sie bespähen sie, in misstrauischer Erwartung. Was passiert jetzt wieder, ist, wenn sein Tag aufgeht, immer die erste Frage eines Wesens, und diese Frage zu stellen und angemessene Antwort zu finden, ist das Menschtier hervorragend befähigt, es kann das wie kein anderes Wesen: die Welt und die Wirklichkeit beobachten und sich einen Reim darauf machen, sich geschmeidig anpassen den immer neuen Einfällen der Wirklichkeit –

das Menschtier kann das, dazu ist es geschaffen, aber dann gibt es eben auch die Gestörten unter den Menschtieren.

Die Gestörten unter den Menschtieren schreien vor Angst, wenn sie der Wirklichkeit konfrontiert sich finden, sie entwerfen überwertige Ideen und rufen: nach dieser Idee hat sich ein für alle Mal die Wirklichkeit zu richten, insbesondere die menschliche Wirklichkeit., die organisieren wir jetzt! Sie glauben wirklich, das könne funktionieren, daran erkennt ihr ihre Gestörtheit. IHRE Stimme in ihnen flüstert, tu das nicht mein Kind, aber die Gestörten haben sich längst für den Lederflügligen entschieden, und der tuschelt wacker: Richtig so, mein Kind, genau so, bist auf dem rechten Weg.

So machen es sich die Gestörten zur Aufgabe, ihre Idee durchzusetzen gegen den ganzen Rest der Welt, gegen alle andersdenkenden Menschtiere, gegen die Wirklichkeit, gegen SIE. Unweigerlich scheitern sie, denn was ist eine Idee in einem Menschenhirn gegen die Wirklichkeit? Niemals vermögen die Gestörten, ihre Idee durchzusetzen, aber da und dort schaffen sie es, eine Ideokratie zu etablieren unter dem verängstigten Geander, und es stellt sich heraus, sie vermögen nichts zu schaffen nichts aufzubauen sie bekommen nichts geregelt gar nichts – nur zu töten und zu vernichten, das vermögen sie immer. So mündet ihr Aufbruch ausweglos in das Massaker, wie ein Bach mündet in den Sumpf, da er verdunstet. Das Massaker ist Ende und Ziel einer jeden Ideokratie, gewöhnlich auch der Anfang. Immer wo die Gestörten eine Ideokratie zu errichten vermochten, blühten auf die Massaker, und die Gestörten versicherten sich und der Welt, vor allem aber sich selber: Das muss jetzt sein. Dies Opfer muss jetzt gebracht werden, und morgen wird sein das Paradies auf Erden.

Implodiert die Ideokratie, stehen die Überlebenden genau dort, wo sie auch schon waren, als die Installation des Paradieses begann. Oder sie sind soweit runtergebracht worden, dass sie sich zum Stand des Vorher überhaupt erst wieder hocharbeiten müssen. Das war geschehen durch die Große Revolution, denn zur Zeit, da die das alte Regime zerstörte, hatte das Land gelegen wirtschaftlich gleichauf mit der Insel im Meer, wo der erste industrielle Aufbruch begonnen hatte, die Revolution aber wirkte einen Absturz, von dem hatten sich die Menschen bei allem Fleiß noch hundert Jahre später nicht erholt. Die Mützenrevolution hinterließ, nach siebzig Jahren der Zwangsherrschaft, eine wirtschaftliche eine geistige eine moralische und kulturelle Wüste, nicht einmal vergleichbar mit der Verödung durch die Stiefelherrschaft.

Die Gestörten unter den Menschtieren werden niemals fertig mit der Produktion überwertiger Ideen. Was ist das im Menschtier, das ihm gegen alle Erfahrung immer wieder sagt: Wirklichkeit ist nichts, ich hab jetzt meine Idee, nach der hat sich fortan die Wirklichkeit zu richten, was ist das?

Ich weiß es nicht.

Die überwertige Idee kann sich, von Fall zu Fall, auch auf Wirklichkeitsteile beziehen. Ich habe schon referiert, dass manch Menschtier zu der Zeit, da der Junge ein alter Mann wurde, sich vor dem Klima ängstigte, und mit seinem Geangste Anhang erwarb. Das Klima wandelt sich! Da müssen wir jetzt alle Angst haben! Verantwortlich Angst haben müssen wir! Um den Planeten! Nie dagewesen das! Solche Bedrohung! Das geht doch nicht! Das muss verhindert werden! Und das können wir verhindern!

Flugs wurde der Klimawandel zur überwertigen Idee, die Menschtiere wussten noch nicht, wie ihnen geschah, da war die Idee in der Welt, in allen Lüften tönt es wie Geschrei, das war nicht mehr zu stillen. Ein Klimarat muss gegründet werden, wusste das Geschrei, der muss die Zügel in die Hand nehmen. Alle anderen Rücksichten gelten nicht mehr. Demokratie Rechtsstaat Meinungsfreiheit Grundrechte Zivilisation, das muss jetzt alles mal ausgesetzt werden, denn es geht doch darum, den Planeten zu retten. Wir sind die Guten, denn wir wollen ja den Planeten retten, und alle anderen sind die Verworfenen, die sind bereit, für ihren schmutzigen Profit den Untergang von uns allen zu riskieren. Den Untergang von uns allen, den werden wir aber verhindern, wir Guten! Denen werden wir ihren Profit in die Gurgel schieben, dass sie daran ersticken! Der Markt ist schuld, der muss abgeschafft werden! Wir brauchen den Plan, den Plan brauchen wir! Alles muss sich jetzt nach uns richten.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 15.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)