Boden der Geschichte

Nehmen wir einmal an, redete die Stimme im Hinterkopf des Brillanten, seine eigene Stimme, nehmen wir einmal an, einfach zugunsten des Arguments, es sei im Normalfall nicht passiert. Nehmen wir das einfach mal an. Nehmen wir an, die revolutionären Machthaber seien wirklich solche Edelmenschen gewesen, dass sie sich den bloßen Gedanken an Selbstbedienung versagt hätten, nehmen wir das einmal an, obwohl wir doch mittlerweile alle wissen, dass sie keine Edelmenschen waren, sondern viehische Schweine, denen der Geifer herabtropfte seitlich der Hauer, aber nehmen wir das einmal an. Selbst dies einmal angenommen, so muss es dennoch da und dort vorgekommen sein, oder? Als Ausnahme, die die Regel bestätigt? Es muss einfach da und dort vorgekommen sein, dass sich die Wärter an den Gefangenen vergriffen haben. Überfüllte Gefängnisse. Es muss einfach da und dort vorgekommen sein, dass Frauen sich angeboten haben, um Vorteile zu erlangen. Es muss einfach da und dort vorgekommen sein, dass Wärter sich mit Gewalt genommen haben, wonach sie lüstete.

Nehmen wir einmal an, solches sei nur ausnahmsweise geschehen, dann wissen wir doch: ausnahmsweise muss es geschehen sein. Muss. Zwingend. Es hat noch in der ganzen Menschheitsgeschichte kein Gefängnis gegeben, in dem es nicht zu Übergriffen gekommen wäre.

Warum schweigen die Quellen?

Plötzlich, während er so saß in dem Straßencafé und Händchen hielt mit seiner kleinen Freundin, die auf ihn einplapperte, in der munter plätschernden Sprache, wie sie dem Land eigen ist, das damals noch so stolz war auf die Große Revolution, munter plätschernde Sprache, wie sie auch die Aristokratinnen gesprochen hatten, die gefangenen Frauen, plötzlich also schien ihm, das Schweigen der Quellen schreie lauter, als jedes Zeugnis es könne.

Wenn die Quellen so laut schweigen, muss da etwas sein, das sie beschweigen wollen.

Entsinnt euch, dies Nachdenken des Brillanten geschah einige Jahrzehnte nach den Toden des Jungen. Es geschah, als die Massenvergewaltigungen durch die Stiefel ans Licht gekommen waren. Die Stiefel hatten zuvor die Massenmorde eingeräumt. Nur die Morde. Von Sex war dabei nicht die Rede gewesen. Wir sind anständig geblieben, hatten sie gesagt. Wir haben vielleicht getötet, aber wir haben keinen Spaß dabei gehabt! Wer sagt denn sowas!

Nun, es wurde gesagt, und es wurde nachgewiesen, hartnäckig, beharrlich, im Detail. Ich habe von all dem schon gesprochen, vom Schweigen hernach, Schweigen konfirmiert durch die anhaltende Scham der überlebenden Opfer.

Nun hätte diese Entlarvung der Stiefel, diese Enthüllung des Offensichtlichen ja schulbildend sein können. Naheliegende Fragen hätten sich aufdrängen können. Zum Beispiel: Die Sache hat sich doch eigentlich von selbst verstanden. Hat sich so von selbst verstanden, wie sich von selbst versteht, dass sich die gestiefelten Mediziner an den behinderten Kindern vergingen, bevor sie sie in den Tod schickten, wenn sie sich nicht ihren Steifen dadurch runterholten, dass sie die Ermordung gleich eigenhändig erledigten. Versteht sich von selbst. Soviel Verstand, soviel Weltkenntnis sollten wir mittlerweile alle haben. Die Stiefel die Mützen, sie haben aus Gründen gemordet. Jahrzehntelang haben wir uns damit aufgehalten, die Gründe dort zu suchen, wo sie von den Stiefeln den Mützen uns gezeigt wurden.

Dorthin müsst ihr gucken, dorthin, in genau die Ecke! schrien die Stiefel die Mützen.

Warum haben wir ihnen gehorcht wie die Deppen? Anstatt nach den wirklichen Gründen zu fragen?

Aber was soll das schon heißen, wirkliche Gründe? Gab es das denn, wirkliche Gründe?

Es gibt einen wirklichen Grund, einen einzigen, und der lautet:

Sie haben getötet, um ihre geile Mordlust zu befriedigen.

Die aufsteigende Mordlust war der Ursprung, und der gemeinsame Entschluss, diese Lust zu befriedigen, machte das Ende.

Die Lust, einmal verkostet, war überwältigend, und einmal damit angefangen, wollte man immer so weitermachen.

Sie waren Triebtäter, nichts galt ihnen als der Trieb und seine Befriedigung.

Sie töteten aus viehischer Lust am Töten.

Alle Gründe sind nur Vorwand, sind nur Vorschutz. Alles Reden von Ideologie von System von Überzeugung: alles Lüge.

Lüge, um die eine Wahrheit zu vertuschen.

Sie töteten aus viehischer Lust am Töten.

Wie kann das Menschtier sich retten vor solchen?

Isolieren? Wegsperren? Oder besser doch gleich den Planeten reinigen von ihnen?

Die Menschtiere begannen nachzudenken.

Sprachen zueinander: Wir haben uns im Ernst einreden lassen, lange Jahrzehnte lang, die hätten aus Überzeugung gemordet, nach Vorlage, ideenerfüllt, aus Pflichtgefühl, in aktenordnender Emsigkeit, aus Gehorsam. So haben die uns gesagt, und wir haben das abgenickt. Wir haben nicht nachgehakt. In Wahrheit haben die gemordet, weil sie ihren Spaß beim Morden hatten, weil es sie jückte beim Töten und Foltern. Es gibt keinen anderen Grund. Menschen quälen und töten andere Menschen, weil sie es genießen. Und nachdem wir das bei den Mützen und den Stiefeln zähneknirschend akzeptiert haben, soll es dennoch bei den Hocherweckten anders gewesen sein? Die sollten getötet und gequält und vergewaltigt haben, in edlem Heroismus, in Selbstüberwindung, weil es eben sein musste, in Verfolg des guten Zieles? Die haben getötet und gequält und vergewaltigt aus demselben Grund, aus dem ihre genuinen und echtbürtigen Sprösslinge, die Stiefel und die Mützen, getötet und gequält und vergewaltigt haben: weil ihnen schon der Gedanke an das Töten und Quälen und Vergewaltigen einen Steifen gemacht hat, oder eine nasse Votze, weshalb denn sonst. Es gibt keinen anderen Grund. Wie haben die Wecker es geschafft, hier ein Frageverbot zu installieren?

Die alte Rivalität, oder besser gesagt, die alte Konkurrenz zwischen Stiefeln und Mützen hatte mindestens geholfen, das Thema zu vermeiden, und ganz besonders die allgemeine Sprachregelung der Hocherweckten, als welche zu sagen vorschrieb: Wir sind die Guten.

Die Stiefel waren die Schlimmen, wussten die Guten landauf landab und zeigten mit Fingern. Das waren die Stiefel, die all das Schlimme gemacht haben. Wir doch nicht!

Nach den Toden des Jungen aber war das Hochgeleucht ernsthaft ins Gerede gekommen. Ich fasse es euch noch mal zusammen, damit ihr versteht, welch gewundene Wege das Nachdenken des Menschtiers geht, um nachher anzukommen beim Offensichtlichen. Denn das ist immer das Ende des menschtierlichen Nachdenkens. Nicht die große Enthüllung, nicht das fassungslose Werhättedasgedacht. Sondern das Offensichtliche. Das Darlegen dessen, was jeder sowieso schon wusste.

Also.

Noch einmal, damit es einsinkt.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 11.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)