Den Umsturz der bestehenden Verhältnisse forderten besonders jene, die von den bestehenden Verhältnissen keine Ahnung hatten. Wo Revolutionen stattfanden, brachten sie Katastrophen statt Fortschritt, Fortschritt ergab sich stets nur aus dem beharrlichen Bessern des Bestehenden. Die Revolutionen wollten stets die Durchsetzung abstrakter Gewissheiten, das ist der Fluch des Menschtiers. Die abstrakten Gewissheiten zerschellten an der Wirklichkeit, und die machthabenden Menschtiere schlossen daraus, nun, muss ich das noch sagen, sie schlossen daraus: die Gewissheiten sind und bleiben richtig, an Misslingen ist stets die Wirklichkeit schuld. Infolgedessen suchten alle Revolutionen nach Schuldigen, und die Genickschussanlagen begangen zu arbeiten.
Der Brillante wusste nachträglich nicht mehr zu sagen, wann ihm der Gedanke kam. Es war eigentlich weniger als ein Gedanke, es war etwas wie ein nagender Zweifel.
Er saß an seinen Archivalien, und er fühlte dieses Nagen in sich, und fühlte es doch nicht, er trug das Nagen hinauf in seine Behausung, die war recht komfortabel, er hatte ein Stipendium, seiner Begabung angemessen, er hatte auch schon eine kleine Freundin gefunden, an die dachte er oft, und hinter allem Denken nagte etwas.
Und eines Tages fiel es ihm erstmals auf.
Das Schweigen der Quellen.
Da stimmt etwas nicht, dachte er, und im Augenblick, da er es dachte, meinte er, er hätte es schon lange Zeit gedacht. Da stimmt etwas nicht.
Lange Berichte über Tribunale. Erinnerungen an Tribunale. Revolution. Revolution in den Straßen, Revolution in den feierlichen Häusern der alten Macht. Gefangene. Tausende und Abertausende. Die Aristokraten in die Gefängnisse.
Die Männer.
Die Männer?
Nein, auch die Frauen. Da waren die Berichte eindeutig. Die Gefängnisse waren gefüllt mit Frauen. Verdacht. Diese Konterrevolutionärin hat für ihren aristokratischen Mann Briefe geschmuggelt, konspirative Briefe. Diese Verräterin ist belauscht worden, wie sie mit einem Unbekannten gesprochen hat in fremder Sprache.
Nun ja, die Aristokratinnen konnten Fremdsprachen. Merkmal. Stigma. Fremdsprachenkenntnis bringt ins Gefängnis.
Diese alte Aristokratin hat Verwandte über See. Ihre Schwester hat ins Ausland geheiratet! Mit der tauscht sie Briefe.
Strom der Gefangenen. Ehefrauen Töchter Mütter Tanten. Und deren Dienstmädchen. Die Kammerzofen Köchinnen Friseusen. Viele blieben bei der alten Herrschaft, aus Treue, oder weil sie keine Perspektive hatten, wohin sie gehen sollten.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 07.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)