Kenntlich die zarten Frauen als Aristokratinnen, als entmachtete Aristokratinnen, kenntlich an tausend Einzelheiten, kenntlich an der hellen Haut dem höheren Wuchs der zierlich modulierenden Stimme. Akzent der Oberklasse als unablegbares Stigma, sie mussten nur den Mund aufmachen, schon antwortete ihnen höhnes Nachäffen. Sie konnten schreiben und lesen. Schreiben und Lesen ist konterrevolutionär, wussten die neuen Machthaber. Die neuen Machthaber waren nichts als Machthaber, sie definierten sich darüber, Macht zu haben, an ihrem Haben der Macht berauschten sie sich. Alles Menschliche wurde sortiert, nach dem Maßstab: Wie stehst du zur Revolution? Wer revolutionär war, wer konterrevolutionär, das war eine Sache der frei fingierenden Zuschreibung, die eine Handlung konnte heute als das, morgen als jenes gelten. Da hatte die finale Markierung durch das Hackebeil fast etwas Erlösendes: Kopf ab, das war eine definitive Definition, wer in die Grube gelegt wurde, mit dem Kopf zwischen den Beinen, so machte man das, der musste vor nichts mehr Angst haben.
Sie hatten Angst, die aristokratischen Frauen, und dennoch bewahrten sie angesichts des Hackebeils ihre Haltung. Man könnte vielleicht auch sagen, die hatten so viel Angst, dass der Anblick des Hackebeils ihnen die Fassung auch nicht mehr zu rauben vermochte.
Waren die so erzogen? überlegte der Brillante. Oder sind das nachträgliche Beschönigungen?
Wer durch das Hackebeil für die Grube hergerichtet worden war, der konnte jedenfalls beschönigende Geschichtsschreibung nachher nicht mehr betreiben. Seine Verwandten aber. Die Überlebenden. Seine Freunde sein Stand seine Klasse.
Oder einfach Nachlebende mit Anstand und Gerechtigkeitsgefühl.
Also nicht die Revolutionäre, denn wenn die nachher Memoiren schrieben, dann pro domo.
Rechtfertigungsliteratur.
Rechtfertigungsliteratur, das kannte der Junge von den Stiefeln. Schrieben Erinnerungen, in denen genau stand, wie es doch unabänderlich zu all dem hatte kommen müssen, wie sie doch nur das Gute gewollt hatten, wie sie so misskannt seien, wie das alles nur einer verstehen könne, der dabei gewesen sei.
Dabei gewesen waren ja eigentlich auch die, so unter die Stiefel geraten waren, aber denen wurde das rechte Verständnis nicht zugesprochen. Niemals erzählte einer der Stiefel, er habe sich nach dem Ende des Imperiums aufgemacht und sich umgehört, wie die Opfer die Sache erlebt hätten.
Niemals.
Statt dessen tönten sie: Die Opfer von all dem, das waren doch wir! Das sieht nur niemand. Deshalb schreibe ich dies Buch.
Es versteht sich von selbst, dass die Geschichte der Großen Revolution, wie sie genannt wurde, niemals zur Ruhe kam. Für die Hocherweckten war sie Heldensymphonie, für die Gegner Halunkentribunal. Die Hocherweckten posaunten und trompeteten nieder, die Gegner aber sagten, wir wollen jetzt über euch reden. Die Zeitgenossen waren entsetzt und fasziniert gewesen, aber die Nachrichten der Flüchtlinge unterschieden sich gar sehr von den Visionen jener, die mit flackernden Augen sagten: So was wollen wir auch haben.
Im Jahrhundert des Jungen wiederholte sich der Spaß mit den Revolutionen der Mützen und der Stiefel, und immerfort blieb die Große Revolution Bezugspunkt. Revolution! Umsturz der bestehenden Verhältnisse!
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 05.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)