Er richtete auf die Frauen sein Augenmerk, das hatte er dem Doktorvater ja auch als ungefähres Forschungsziel umrissen.
Du solltest langsam zu einer genaueren Formulierung finden, sagte der Doktorvater, wenn er den Brillanten mal wieder in seinem behaglichen Heim hatte, aus offiziellem Anlass oder einfach so. Er duzte den Doktoranden, dieser aber redete ihn höflich mit „Sie“ an, das wurde so erwartet.
Ich bin noch nicht soweit, sagte der Brillante.
Das Haus des Doktorvaters lag in einem der ferneren Vororte, gartenbehütet. Auf der Rückfahrt gab es einen Abschnitt, Brückenanlage über der Stadtautobahn, da hatte der Fahrer einen weiten Blick auf die nächtliche Hauptstadt, man rechnete schon damit, dass alle Fahrzeuge hier langsam fuhren, die Passagiere hinüberschauend auf die schweigende See aus Licht, und wer später daran zurückdachte, meinte sicher sich zu erinnern, dass die Welle sich bewegt hatte. Geatmet. Woge aus glitzernden Wimpertierchen, alle ihrer Beschäftigung nachgehend, nicht achtend des Glanzes, den sie erzeugten, Glanz der Sichtbarkeit.
Die Menschtiere erzeugen Licht, wenn sie machen, sie werden sichtbar, anderen Menschtieren und uns. Werden sichtbar, selbst wenn ihr Tun lichtscheu ist. Irgendwann kommt alles an den Tag.
Frauen während der Revolution. Frauen im Gefängnis? Was gibt es da zu forschen? Gefängnis ist Gefängnis. Ja, aber warum sind Frauen während der Revolution ins Gefängnis gekommen? Aus spezifischen Gründen? Aus anderen Gründen als Männer? Frauen hatten im alten, im vorrevolutionären Regime so gut wie nie politische Funktionen ausgeübt, aus diesem Grund konnten sie also nicht ins Gefängnis geraten. Aber sie waren Ehefrauen Töchter Mütter von Funktionären des alten Regimes. Sie waren vielleicht sogar treue Hausbedienstete in den Häusern der alten Funktionselite. Die neuen Machthaber hatten Frauen ins Gefängnis gebracht, um deren Männer ängstigen oder erpressen oder sonst unter Druck setzen zu können, soviel war sicher. Hatte sogar Fälle gegeben, da hatte man Frau und Tochter eines Entflohenen festgesetzt, um seine Rückkehr zu erzwingen. Flucht aus dem Paradies war Verbrechen, aus dieser Melodie würden die Hocherweckten später noch ganze Symphonien komponieren.
Der Brillante schüttelte den Kopf über den endlosen Strom der Verhafteten. Die müssen Angst gehabt haben, dachte er, Angst vor jedem Geräusch an der Tür. Hatten in den kahlen Kammern gesessen, die ihnen noch verstattet waren, die vormals vornehmen Frauen, hielten sich durch den Verkauf verbliebener Wertgegenstände über Wasser, mit Nähen, mit Hoffnung, die Töchter sahen die Mütter an mit Blicken die sagten: Tu doch was.
Angst.
Angst war das erste Produkt, das die Wecker des Hochgeleuchts fertigten als Massenware, kaum hatten sie die Macht ergriffen. Die Macht, von der sie immer geträumt hatten.
Angst.
Angst vor Geräusch, Angst vor dem groben Lachen der neuen Büttel. Jeder Büttel ein Machthaber, geschwellt von Willkür. Angst vor dem Heute, Angst vor dem Morgen. Angst vor der Gefangenschaft in dem winzigen Zimmer, Angst vor den Tritten den Stimmen draußen vor der Tür, Angst, auf die Straße hinauszugehen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 03.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)