Unter diesen Umständen hätte wahrscheinlich sogar der Junge seine Chance bekommen. Zeit seiner Leben hatte er gedacht: Ich war ein Kind. Wieso hat sich niemand um mich gekümmert? Wieso hat niemand genauer hingeguckt? Ich war der, der nirgendwo hineinpasste, und alle sagten nur, der stört bloß, wie können wir den schnellstens loswerden? Überall alles so angenehm sich fügend und zusammenpassend, sagten sie, alles so geschmeidig und ineinandergreifend, sagten sie, überall verstehen die Kinder, sich anzupassen und mitzumachen, und dazwischen dieser Störenfried, Sandkorn im Getriebe, wegen dem quietscht die gute Maschine so, der muss weg, aber schleunigst.
Wenn zwischen all den rundgeschliffenen, den sonnewarmen Kieseln am Flussufer ein Kristall liegt, und der Wanderer, barfuß schlendernd, tritt unversehens auf diesen, dann schreit er und jammert über den spitzen Stich und fühlt Zorn. Nichts gilt ihm an dem Kristall als das, dass er, der Wanderer, ihn nicht gesehen und nicht erwartet hat und dass ihm jetzt der Fuß blutet. Weg mit dem scharfkantigen Teil, schreit er zornig, weg in hohem Bogen, dass nicht noch einer drauftritt! Oder unversehens gar ich selber, wenn ich auf gleichem Wege wieder zurückkomme!
Denn das wollen die Menschtiere, so des Morgens behaglich schlendernd über die rundgerollten Kiesel hinausschreiten, das wollen sie auf jeden Fall: abends auf gleichem Weg wieder zurückkommen, damit sie des neuen Morgens wieder auf gleichem Wege — na ja, und so weiter.
Sollte gar nicht darüber nachdenken, dachte der Junge in seinem Alter. Sie haben ihren Willen bekommen, sie haben mich aussortiert, sollen sie glücklich sein damit.
Jahrzehnte nach seinen Toden wühlte der Brillante im Archiv.
Stach hinaus in die Ozeane der Archivalien, und irgendwann, das wusste er, würde er sein Beuteschema formulieren müssen, Farbe Form Gewohnheiten der Wesen, die er aus den Wellen an Bord heben wollte, so dass er mit wohlsortiertem Fang wieder würde an Land gehen können.
Noch nicht jetzt, dachte er, noch nicht heute. Ist so interessant hier, im Unbekannten.
Er las und las, und das Lesen wurde ihm leichtgemacht, die Archivalien waren hervorragend erschlossen über die elektronischen Spielzeuge, automatisierte Findsysteme brachten ihm die gewünschten Texte aus den Regalen in Minutenschnelle auf den Schreibtisch, die einzelnen Objekte waren mit elektronischem Wasserzeichen versehen, so war selbst versehentliches Verbringen eines Archivales in den falschen Aufbewahrungskasten nicht mehr möglich, weil sich die kontrollierende Maschine sofort beschwerte.
Komfort, von dem frühere Forschergenerationen nur hatten träumen können.
Manchmal werden Träume Wirklichkeit.
Der Brillante im Revolutionsarchiv.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 01.09.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)