Gnadenstoß

Der Brillante hatte, lasst mich das noch einmal sagen, keine Ahnung von dem, was kommen würde.

Was würde kommen?

Der Brillante würde, er höchstpersönlich, dem was noch von dem Hochgeleucht übrig war, den Gnadenstoß versetzen. War gar nicht seine Absicht, für ihn war das Hochgeleucht doch wesentlich ein historisches Phänomen, und als solches auch historisch einzuordnen.

Gab aber da oben, auf den alten Straßen über dem Archiv, den Straßen, durch die schon die Karren mit den Eingefangenen für das Hackebeil gerollt waren, noch still Erregte, die träumten von der alten Macht, Macht des Hocherwecks, Macht der Stiefel Mützen Taschen.

Die hatten wir mal, diese Macht, dachten sie, die holen wir uns wieder.

Macht über die Gaskammern, Macht über die Genickschussanlagen, Macht über die Abtreibungskliniken.

Unten im Archiv aber kramte der Brillante in den Dokumenten.

Wie es Menschtieren ergeht, die den Vergangenheiten zugetan sind, ruderte er hinein in den Ozean der Archivalien und vergaß bald, selig verschollen, nach Land noch Ausschau zu halten, an Küste noch zu denken. Er fand Briefe Memoiren Druckschriften. Er las. Sein Herz schlug höher. Er fühlte sich dem vergangenen Leben nahe, so nahe, dass er es zuweilen wie Verrat empfand, wenn er des Abends in die Oberwelt wieder hinauftauchte und sich fand von Automobilen umsurrt. Im Ohr hatte er das Klappern und Rasseln der Kutschen der Karren. Er dachte an das Leben, das sich in den Dokumenten äußerte, ich bin euch verpflichtet, fühlte er, ich werde von euch reden, dass die im Heute von euch wissen.

Es war ihm, als würden die aus dem Gestern ihn anschauen mit runden, verlangenden Augen. Wirklich? sagten die Blicke, ihr denkt noch an uns? Ihr habt uns nicht vergessen?

Das rollende Jetzt ist Inbegriff und Konzentration der Zeit, alle Menschwesen wissen, tiefinnerlich, wenn ich einmal tot bin, wird sie weiterrollen, die Woge der Zeit, ich aber werde zurückbleiben, ich werde endlich Ruhe haben, aber es war so schön, getragen zu werden von der Woge, in ein immer neues Morgen hinein.

Von daher die Sehnsucht in den Blicken der vergangenen Menschtiere, von daher ihr Wunsch, erinnert zu werden.

Ich denke an euch, versprach der Brillante jeden Tag, und er meinte es ernst, sein Herz schlug warm dabei.

Es war schon recht, dass er sich unter den Historikern seiner Zeit einen großen Namen machen würde, die Wissenschaft war ihm kein zu errechnendes Schema, sondern Notwendigkeit und Ergriffenheit.

Ohne persönliche Ergriffenheit bringt das Menschtier nichts Rechtes zustande, die persönliche Ergriffenheit aber ist per definitionem eine Sache der Person, deswegen zentrierten sich die Universitäten und Institute in der Zeit nach der religiösen Wende so aufmerksam um Personen, weniger, wie noch zu Zeiten des Jungen wie noch zu Zeiten, da der Brillante seine Ausbildung erfuhr, um Fächer. Das Fach, so lautete die neue Überzeugung, das Fach ist wesentlich Vermittlung des Handwerks. Unerlässlich, ganz klar. Aber die Wissenschaft, das sind die forschenden und entwerfenden Personen.

Nach nichts wurde in den Schulen der Zeit jenseits der religiösen Wende so intensiv gefahndet wie nach Talenten. Der Planet brauchte Talente und Begabungen, und man hatte zu verstehen gelernt, die talentierten und begabten Kinder, das sind nicht immer die, die den Schulmeistern gefallen.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 30.08.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)