Die Schlange musste schon die ganze Zeit dagelegen haben, ohne dass Eluard es bemerkt hatte, denn sie rührte sich nicht, züngelte auch nicht, lag nur da, eingerollt in zwei weiten Schlingen, und schien zu warten, den Kopf wenig erhoben.
Eluard sagte: „Es ist ihr kalt, von dem Regen, deshalb rührt sie sich nicht.“
Ein hübsches Tier, anmutig … dunkelbraun, mit dünnen schwarzen Längsstreifen. Der Kopf kaum abgesetzt vom Körper.
Waldemar sagte: „Sie wartete bestimmt darauf, dass wieder die Sonne kommt.“
Die Schlange bewegte sich, entrollte sich etwas, näher auf die beiden Jungen zu. Sie schien keine Angst zu haben, sonst waren Schlangen eher scheu, wie die Eidechsen …
„Ich glaub, sie ist erschrocken, als wir gekommen sind“, sagte Eluard, „und da hat sie sich nicht wieder davongetraut …“
Die Schlange züngelte jetzt, ein Mal, die Zunge war nicht besonders tief gespalten, und dann blinzelte sie, kurz und schnell, eine Nickhaut glitt über die großen schwarzen Augen.
„Oh …“ machte Eluard, „das ist überhaupt keine Schlange … das ist eine Blindschleiche.“
„Was?“ fragte Waldemar, etwas entrüstet. „Na, das ist doch eine Schlange, ich versteh dich nicht.“
„Nein“, widersprach Eluard, „das ist eine Eidechse. Das hat mir Großvater Rombard gesagt.“
„Aber wieso …“ fing Waldemar an, etwas unglücklich, da war der Augenschein …
„Also“, erklärte Eluard, „die hat zuerst ausgesehen wie eine Eidechse, also mit Beinen und so … nun hat sie aber immer im hohen Gras gelebt, und hat Schnecken gejagt, haha …“ er lachte, weil ihm der Begriff ‚jagen‘ im Zusammenhang mit Schnecken komisch vorkam, aber Waldemar begriff nicht und sah ihn abwartend an.
„Also“, fuhr Eluard fort, „sie hat im hohen Gras gelebt, zwischen all den Gräsern und Kräutern, und dadurch wurde sie mit der Zeit immer länger und dünner, verstehst du, weil sie sich ja immer hindurchwinden musste … jetzt hatte sie aber doch noch ihre Beine, und das war gar nicht gut, denn da sie ja immer länger und dünner wurde, ist sie mit den Beinen immer hängengeblieben … na, und eines Tages ist dann Vautrin vorbeigekommen, und da hat sie ihn angehalten und gejammert und geklagt, sie bliebe immer hängen im Gras, und das wär gar nicht gut, denn die Füchse könnten sie leicht erwischen, und die Käuzchen und die Eulen auch … und das hat Vautrin dann eingesehen, besonders, wo sie doch sowieso schon so lang und dünn geworden war, und er hat ihr die Beine wieder abgenommen und sie einem anderen Tier gegeben, ich weiß nicht mehr, welchem … und seitdem sieht die Blindschleiche aus wie eine Schlange, aber in Wirklichkeit ist sie gar keine.“
„Das ist eine schöne Geschichte“, sagte Waldemar, „sie gefällt mir … aber woran erkennst du sie nun?“
„Schau, sie hat einen Kopf wie eine Eidechse, er kommt einfach aus dem Körper hervor … bei Schlangen ist der Kopf immer dicker als der Körper, hat Großvater Rombard gesagt … und außerdem kann sie blinzeln, hast du gesehen? Das kann keine Schlange.“
Die Blindschleiche züngelte wieder und blinzelte gleich darauf.
„Oh, oh ja“, rief Waldemar aufgeregt, „ich seh es, es ist wirklich wahr, so was …“
Er betrachtete das schlanke Tier mit erstauntem Interesse, ja, das war also nicht bloß einfach eine Schlange, das war etwas anderes, eine Geschichte gehörte dazu, eine Eidechse, die ihre Beine verloren hatte …
„Ich muss Grand Mère fragen“, erklärte er mit der hellen Stimme, die er immer bekam, wenn er aufgeregt war.
„Das machen wir“, stimmte Eluard höflich zu. „Wir werden Grand Mère fragen.“
Die Blindschleiche rollte sich gemächlich auf, wobei sie den Kopf ein wenig erhoben hielt, und schlängelte sich ruhig und offenbar ohne Angst an den beiden Jungen vorbei. Es gab ein leise schleifendes Geräusch im Gras, das waren die Halme, die den harten Schuppenkörper streiften, und die Regentropfen rannen auf das glänzende Tier.
Waldemar betrachtete sie nachdenklich, dann sagte er: „Ich glaub … ich könnte mir vorstellen, dass sie einen hellen Bauch hat.“
„Was?“ fragte Eluard. „Oh ja, du hast recht, das könnte sein, wir wollen doch mal sehen …“
Sie warfen sich beide der Länge nach in das nasse Gras, legten die Köpfe seitwärts auf den Boden und mühten sich, unter das Tier zu sehen, wirklich, das war eine wichtige Frage …
Die Blindschleiche wand sich langsam davon, sie war leicht und wurde von den dichten Gräsern getragen, ohne sie niederzudrücken, die beiden Jungen folgten ihren Bewegungen, am Boden entlangrobbend, die Wangen in’s Gras gepresst … sie waren beide schon ganz nass.
Die Blindschleiche geriet auf ein Polster dichter Kräuter und rutschte ab, so dass sie halb auf die Seite fiel. Es leuchtete hell auf, für einen Augenblick, dann drehte sie sich rasch wieder auf den Bauch, sie mochte es ebensowenig wie alle anderen Tiere, auf dem Rücken zu liegen.
„Hast du gesehen?“ rief Waldemar triumphierend. „Die hat einen weißen Bauch.“
„Ja“, stimmte Eluard zu, „ich hab’s gesehen, haha, sie hat einen weißen Bauch, wirklich …“
„Haha“, lachte auch Waldemar, und die beiden freuten sich sehr, sie hatte also wirklich einen weißen Bauch, das gute Tier, und sie mochte ihn gar nicht gern herzeigen, so war das …
Die Blindschleiche wand sich in eleganten Bewegungen davon, jetzt fortgesetzt züngelnd, und bald war sie im Gebüsch verschwunden.
„Was treibt ihr da?“ fragte Inge. Sie kam quer über die Wiese und schaute Waldemar und Eluard fragend an. „Legt euch doch nicht so in’s Gras, ihr seid ja ganz nass geworden …“
„Jaa …“ sagte Waldemar. „Da war eine Blindschleiche … und wir mussten doch sehen, ob sie einen weißen Bauch hat …“
„Was?“ fragte Inge.
„Ja, und die hat einen, denk mal, haha …“
„Haha“, respondierte Eluard.
Inge sah von einem zum anderen. „Ihr seid albern“, sagte sie, und dann fing sie an zu lachen, und dann lachte sie so sehr, dass sie sich in’s Gras setzen musste und ihr die Tränen in die Augen traten.
„Was ist denn los?“ fragte Roger und kam auch heran.
„Also, da war eine Blindschleiche …“ begann Inge, und dann sah sie die beiden Kleinen an, und die beiden Kleinen sahen sie an, und dann platzten sie los, alle drei, dass ihnen der Bauch weh tat und der Atem schwand.
„Eieine Blindschlei-heische“, heulte Inge.
Roger starrte die drei an, verständnislos, er begriff nicht, was sie hatten, was war denn bloß los, und dann behalf er sich damit, dass er auch anfing zu lachen, denn was hätte er sonst tun sollen?
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 29.08.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)