Blickt ihr auf ein All, werdet ihr sie sofort erkennen, die gewaltig rollende Welle der Verdichtung, installiert von IHR in jedem All als das Jetzt aller darin geschaffenen Wesen.
Das Rollen der Welle ist übrigens so gewaltig, dass sie hinter sich einen Sog herstellt, einen zeitlichen Raum geringerer Verdichtung, das führt dazu, dass immer wieder Kompartimente der unmittelbar zurückliegenden Vergangenheit in das Jetzt hineingerissen werden, unserem Blick mag der Vorgang zufallsbestimmt vorkommen, meine Schwester, die destinatorische Zurüstung, weiß aber sehr genau, was sie tut. Sie hat ihre Anweisungen, versteht sich. Dem Menschtier erscheint das Auftauchen von Vergangenheitsrudimenten im Jetzt als grausig, gespenstisch. Wiedergängerisch. Jene Menschtiere, die sich nach dem eben vergangenen Gestern sehnen, fühlen sich angeheimelt, ihnen sind solche scheinbar führerlos in die Gegenwart hineingerissenen Vergangenheitskompartimente Ziel schweifender Sehnsucht, ihre Herzen lodern, wenn sie mit einem solch im Jetzt herumtrudelnden Partikel kollidieren, das Herz des Prägnanten flackerte, wenn er von einem herumsausenden Mützenfetzen plötzlich sich berührt fühlte, das Herz des mallen Alten, wenn er von einem ins Jetzt hereineiernden Stiefel einen Tritt in den Hintern bekam. Ihr versteht das Prinzip. Der Lederflüglige, Vater der Lüge, flüstert seinem Wirtsmenschen dann jeweils zu: Das ist die Zukunft, mein Kind. Das sagt er, weil er gewohnheitsmäßig lügt, er kann nicht anders, und sein Menschtier rollt verklärt die Augen und glaubt, es habe Teile des Morgen erhascht.
Auf ihrer anderen Seite, zum Morgen hin, erzeugt die Welle ganz analog einen Raum erhöhter Verdichtung, da mischen sich die Elemente des Jetzt mit den hereingepressten Elementen des Morgen zu solcher Innigkeit, dass dem Menschwesen das Hineinhandeln aus dem Heute ins Morgen ganz selbstverständlicher Aktionsmodus ist. Das Jetzt ist dem Menschtier unmittelbar zum Morgen. Nicht nur dem Menschtier, sondern allen geschaffenen Wesen, aber das Menschtier ist eben imstande, die Sache abständig zu reflektieren.
Versteht sich, das Menschtier hat auch an diesem Punkt herumgebosselt und versichert, das Jetzt gibt es gar nicht, Vergangenheit gibt es nicht, Zukunft gibt es nicht. Alles nur Kategorien des menschlichen Erfahrungsraums, des menschlichen Weltzugriffs, des menschlichen Erkenntnisvermögens!
Was immer.
Das wichtige Wichtel war auch hier einlässlich zugange, und in seiner Nachfolge war der Kraht kein Ende. Eine Wirklichkeit des Jetzt zu postulieren, wussten die Kräher, das ist nur naiver Ontologismus. Alles ein Problem der Episteme!
Die gewöhnlichen Menschtiere haben sich um solche Erdichtungen nie gekümmert und immer nur gesagt: jetzt ist jetzt.
Und dabei ist es auch geblieben.
Jetzt ist jetzt.
Der Brillante aber dachte sich, aus seiner Sicht als Historiker: Das Jetzt ist der Nachrichten über das Vergangene dringend bedürftig. Einmal, um den Menschen der Vergangenheit Gerechtigkeit wiederfahren lassen zu können. Sie haben ein Recht darauf, von uns angemessen wahrgenommen zu werden, so wie wir ein Recht darauf haben, von den Kommenden richtig angesehen zu werden. Und das schließt unsere Fehler und Verfehlungen mit ein.
Aber, so dachte der Brillante, es gilt noch mehr. Das Jetzt ist durch das Vergangene informiert. Ohne das Vergangene wäre das Jetzt nicht, was es ist. Das Jetzt kann sich selber nicht richtig verstehen, wenn es das Vergangene nicht richtig versteht. Gewiss können die im Jetzt sagen, wozu müssen wir uns verstehen, es reicht doch, dass wir sind und das Leben haben, alles weitere ergibt sich von selbst, Verstehen ist nur ein Anlass zu Zwietracht, lasst uns einfach tun und machen und nicht viel darüber nachdenken.
Er wollte solche Denke gar nicht verurteilen, der Brillante, sie hatte manches für sich, das ewige Kauen an der Vergangenheit kann die Gegenwart sehr wohl auch kränken, aber andererseits war die überwältigende Mehrheit der Menschwesen mit solcher Auskunft nie zufrieden. Das Menschtier denkt seit ältesten Tagen mit grimmer Entschlossenheit an die alten Zeiten, und will benachrichtigt sein. Schon als die Menschwesen noch am Lagerfeuer saßen, hörten sie am liebsten Geschichten aus alter Zeit, Geschichten, die mit den Worten beginnen: Es war einmal.
Solch zeitgreifendes Bewusstsein ist dem Menschtier eingepflanzt, es hört von den Menschwesen ferner Tage und lacht und schüttelt den Kopf oder versinkt in fromme Bewunderung.
Das Menschwesen will wahre Geschichten hören, von vergangenen Tagen, und die Jungen fragen die Alten, wie war das, als ihr jung wart?
Wie ich schon sagte, zu Zeiten des Jungen bekamen sie dann zur Antwort: Das geht dich überhaupt nichts an, noch so eine freche Frage, und es gibt eins über das Maul, hast du überhaupt deine Hausaufgaben schon gemacht?
Zeiten, in denen so geredet wird, sind schlechte Zeiten für Anstand und Würde, das wusste auch der Brillante, und weil er das wusste, konnte er mit Bestimmtheit sagen: Das hat Wert, was ich hier mache, das hat seinen Sinn.
Als er nämlich, die lettre de cachet in der Hand, in die revolutionären Archive hinunterschritt.
Nach Neuigkeiten suchend über das Frauenleben in alter Zeit.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 28.08.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)