Wie nass war die Wiese! Eluard streifte nachdenklich umher im hohen Gras und schaute hinunter auf seine Beine, an denen blieben Pflanzenteilchen hängen und blasse Wassertropfen. Kühl war das … aber man bekam doch saubere Füße dabei.
Unter dem Gras, unter den Blumen, unter den Kräutern musste der Erdboden sein, man konnte ihn nicht sehen … Eluard bückte sich und spähte hinein in die grüne Wirrnis, ja, drunten war die Erde, sicherlich, aber … er fuhr mit dem Finger hinunter, die Hand verschwand, er spürte, wie die Stängel und Gräser nach unten zu härter wurden, fester, dann war da ein dichter Teppich, nein, ein Filz aus Wurzelwerk, kaum zu durchdringen, und darunter musste dann ja wohl die Erde sein, aber er fand sie nicht, konnte sie nicht erspüren, da war nur grünes und braunes Wachstum, zäh und dicht verwoben; aber kleine Tiere gab es, die mochten den Abstieg gewinnen: Käfer zum Beispiel, manche jedenfalls, gruben Löcher in die Erde, ach ja, und dann Regenwürmer, die westen sogar in tiefen Gängen, wie die Maulwürfe … Eluard sah sich nachdenklich um. Ob hier Maulwürfe lebten? Sicherlich, doch die Hügel, die Ausgänge ihrer Bauten, wären nur schwer zu finden, die hohe Wiese verbarg sie. Maulwürfe … Mäuse, natürlich, die gruben sich auch Löcher in die Erde … da unten, unter dem Wurzelfilz, musste es wimmeln vor Leben, in einem Netzwerk aus unterirdischen Gängen und Korridoren, und Eluard stellte sich vor, wie es wäre, so klein zu sein, dass man diese Welt erforschen könnte, oh, mit einer Laterne sich entlangtasten die Höhlenwände, stets gewärtig sein erstaunender Begegnungen, Begegnungen mit flinken schwarzen Augen und braunen Samtpelzen … rund würden die Gänge sein, die Korridore, unterbrochen immer wieder von wohlausgeschachteten Höhlen, und Wurzelwerk würde zu den Decken hereinhängen, feines Gefaser, dass man ihm ausweichen müsste … und erfüllt wäre die Luft von tonigem Erdgeruch, feucht wie schwerer Lehm … und Käfer wären zu finden, mit schwarzschillernden Flügeldecken und unbehülflichem Gang auf dünnen, gesägten Beinchen, man würde zur Seite treten müssen und die dummen Tiere vorbeilassen, sie würden einen sonst umrennen, aus Unverstand, mit ihren kurzen runden Köpfen und den großen Fresswerkzeugen, den Schäl- und Schneidemaschinen … und endlos wären die Gänge und Höhlen, man könnte Klopfzeichen geben, auf andere Wanderer treffen, an geeigneten Wandstellen Durchbrüche erzielen, in benachbarte Systeme gelangen, immer fortschreiten, mit staunendem Blick hinauf zu den Höhlendecken, zu den Wundern irdener Architektur, man würde auf Kreuzungen treffen, vor denen man sich entscheiden müsste, vielleicht auch auf Flüsse und sprudelnde Quellen, ja, man könnte der Geburt einer Quelle beiwohnen, sehen, was sich hinter dem geheimnisvollen Erdloch verbarg, aus dem das blanke Wasser hervorquoll, das unerschöpfliche …
„Wonach suchst du?“ fragte Waldemar, er war hinzugetreten, ohne dass Eluard es bemerkt hatte, und Eluard hockte da im Gras und steckte tastend die Hand hinein und blinzelte.
„Ich … ich suche die Erde“, sagte er, ein wenig verlegen. „Ich meine … unter dem Gras muss doch irgendwo die Erde sein, oder?“
„Ja …“ machte Waldemar. „Aber da sind viele Wurzeln drüber, und Halme und Gräser und so … Weißt du was? Im Herbst, wenn eine Wiese ganz abgemäht ist, da sieht man die – die Wege von den Mäusen, ja … die beißen sich nämlich Wege durch die Wurzeln und Gräser, am Boden, und sie gehen auch immer dieselben Wege … Grand Mère sagt, die wären dann wie Laubengänge … hast du schon mal einen Laubengang gesehen? Ja, also so wären dann die Mäusegänge, unter dem Gras durch, und jetzt sind die ganz versteckt, aber wenn im Herbst einer kommt und die Wiesen abmäht, aber richtig, bis zum Grund, dann sieht man auch die Mäusewege, richtig ausgetreten sind die, und ganz kahl, weil die Mäuse alles abnagen, was nachwächst, damit der Weg immer gut zu begehen bleibt … ja, und da sind dann die Wege, und die führen immer von einem Mausloch zum nächsten, haha, stell dir das vor, kreuz und quer über die ganze Wiese, aber immer von einem Mauseloch zum nächsten, da können sie sich Besuche machen … stell dir mal vor, wie das wär, wenn wir so klein wären, dass wir dort herumspazieren könnten …“
„Oh“, antwortete Eluard, „ich …“ Er fuhr nicht fort, sondern sah nachdenklich hinunter in das Gräsergewirr. Manche der Halme und Blätter waren nass und glänzend, aber dann gab es auch Kräuter, deren Blätter besaßen einen Pelz aus spinnwebfeinen Härchen, von denen rollten die Wassertropfen einfach ab, ohne das Blatt zu benetzen, nur an den äußersten Spitzen der Härchen blieben winzige Tröpfchen hängen, man konnte sie nur erkennen, weil sie das Licht reflektierten, so bildeten sie eine leuchtende Spur, die bald verging …
Wie sollte man die Welt Vautrins begreifen, wenn eine einzige Wiese die Unerschöpflichkeit barg der Labyrinthe, dass man daran dachte, hineinzukriechen, käferklein, und kein Ende fände der Wege …
„Ich hab gerade daran gedacht …“ fing Eluard an.
„Sch …“ unterbrach ihn Waldemar leise und legte ihm die Hand auf die Schulter. Eluard blickte auf und sah, dass Waldemar mit den Augen auf eine Wiesenstelle wies, direkt neben ihnen … da war eine Schlange im Gras.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 27.08.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)