Nein, sie mochten sich nicht dran gewöhnen, nicht so schnell. Ihr Ende war zäh. Sie hatten die Gewohnheit für sich, die Unbeweglichkeit der Dummen. Zur Zeit, als der Brillante, die lettre de cachet in der Hand, die Treppen zum revolutionären Archiv hinunterschritt, da saßen sie immer noch in allen Amtsstuben, die Hocherweckten, und sicher nicht aus Überzeugung, sondern weil man es in Amtsstuben eben nicht anders kannte. Das Menschtier fühlt sich behaglich in der Wärme des Überkommenen. Ist alles so, wie ich es kenne, denkt es, also ist alles richtig. Denn was wir schon immer kennen, das ist doch richtig?
Wenn das Menschtier gefragt wird, was das Richtige sei, schaut es auf das, was es schon immer kennt.
Recht so, mein Kind, flüstert von hinten der Lederflüglige.
Zu wissen, was das Richtige sei, gibt es für das Menschtier nur einen Weg: hören auf IHRE Stimme.
Frauenleben. Frauenleben während der Revolution. Oder Frauenleben unter der Revolution? Der Brillante ponderierte. Die Standardwerke zum Thema hatte er gelesen, sonst hätte er sich gar nicht vor das Angesicht seines Doktorvaters getraut. Unbefriedigende Lektüre. Zum Teil aufregende Lektüre. Kein Widerspruch. Für sich genommen fand der Brillante, geborener Historiker der er war, jedes geschichtliche Detail aufregend. Geschichtsschreibung! Das vergangene, das vergessene Leben neu sichtbar machen! Geschichte schauen als das große Reservoir des Menschenmöglichen!
Wer das nicht versteht, dachte der Brillante, der versteht wenig von der Zeit.
Er dachte das mehr oder weniger tentativ, das Spekulieren war nicht so seine Sache. Sein Interesse an der Vergangenheit war konkret und leidenschaftlich, er sah die Menschen von gestern als seine Gefährten, er wollte, dass sie zu ihm sprächen, sich ihm offenbarten, damit er –
vielleicht damit er in der Gegenwart als ihr Dolmetsch diene. Als ihr Fürsprech wohl gar.
Ein Teil seiner brennenden Interessiertheit speiste sich aus dem Eindruck, dass die Vergangenen unter den Gegenwärtigen immer missverstanden, immer vernachlässigt seien.
Nun ja, dachte er, die Menschen haben anderes zu tun in der Gegenwart. Aber es ist doch nicht recht, dass sie auf die Menschen der Vergangenheit so herabsehen, so über die Achsel hinweg. Das verdienen die aus dem Damals nicht.
Aus solcher Überlegung ergibt sich wie von selbst der Vorwurf an die Lebenden: Ganz so schlau wie ihr denkt seid ihr nun doch nicht. Die damals wussten auch was. Die waren auch nicht dumm. Die hatten ihre Gründe.
Viele Zeitgenossen des jeweiligen Jetzt teilen diese Überzeugung, deshalb ist die historische Literatur unter den Menschtieren angesehen. In den Bibliotheken auf dem Kontinent des Jungen wurden von jeher die Abteilungen mit den geschichtlichen Darstellungen gern und gut besucht, und in der erzählenden Literatur gab es eine eigene Gattung von Romanen, die Vergangenheiten zu evozieren trachteten. Auch der Unnachahmliche hatte zwei historische Romane geschrieben, den einen davon über die hocherweckte Revolution, zwischen deren Untiefen der Brillante jetzt segelte, und auch zur Zeit des Brillanten noch, wie schon zur Zeit des Jungen, wurde dieser historische Roman des Unnachahmlichen in den Schulen als Pflichtlektüre gelesen.
Es war also nicht so, dass der Unnachahmliche seine Studienwahl alleweil verteidigen musste.
Was studieren Sie? wurde er gefragt. Geschichte? Aha! Interessantes Fach, das.
Es war sogar so, dass viele Menschtiere eine Lieblingsepoche der Geschichte zu benennen wussten, für die sie sich besonders interessierten, in der sie sich vielleicht sogar gerne aufgehalten hätten.
Nein, auf den Komfort der neuen Marktzeit mochte niemand verzichten. Aber sich ein bisschen zurückträumen in die alten Tage … die historischen Romane lesen …
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 24.08.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)