Die Gedanken der Erde

„Da vorne“, sagte Grand Mère, „da vorne ist die Esche, da haben wir genächtigt, vor einer Woche.“

„Ja“, antwortete Aslan, „hier war es.“

Schweigend stand der große Baum im Regen, dunkel der Stamm, flirrend die gefiederten Blätter. Links, im Osten, leuchteten die Ausläufer der Kiefernwaldes herüber, in dessen Tiefen war der Kiepenhändler Gelbmann verschwunden, und rechts, nach Westen zu, murmelte der Bach.

Viel Zeit musste verstrichen sein, seit sie hier gelagert hatten, oh, eine Woche konnte bergen so viel der Zeit, unendliche Räume fast, nicht zu durchmessen waren sie, wenn man sich in sie vertiefte …

In ruhigen Schleifen wand sich der Weg durch die flache Hügellandschaft, Moses Maimon hatte keine Mühe, und die anderen auch nicht.

„Jetzt haben wir gleich die Straße erreicht“, sagte Aslan mit Erleichterung, „und dann nehmen wir wieder unseren Weg nach Westen, wohin wir ja wollen.“

„So ist es“, sagte Grand Mère, „und froh bin ich darum.“

Die Esche stand schweigend im Regen, so viel der Welt war schon vergangen, und sie stand immer noch, sah den Regen, die Wolken und die Sonne, die Jahreszeiten und den Mond, und sie stand und lebte.

Das war es, Leben.

[…]

Schließlich kam die Straße, wohlbefestigt, mit gutem Untergrund; und das Gelände senkte sich, sanft und stetig, hin zu den weiten Niederungen.

Dort warteten die Wälder.

[…]

Die Wälder sind das Herz der Welt; und unausdenkbar ihre Labyrinthe.

Seltsame Verschlingungen wesen dort; nie waren die Gedanken der Erde ausdrucksvoller, entwickelten vielfacheres Geflecht. Da trieben Ströme durch die Ebenen, verzweigten ihren Lauf, ergründeten ihre Vielgestalt. Altwässer wurden, stille dunkele Kanäle, beschattet vom Flederwuchs der Bäume, und im Röhricht flatterten die Vögel. Und die Ströme bedachten ihre Betten, erträumten sich vielgegliederte Gestalt, die leichten Mäanderläufe entwarfen ihre Schlingen, verbreiterten sich zu großer Majestät, doch nur in einem Aufschwung, einem einzigen; der aber genügte, zu nähren die Spiele der Ebenen.

Teiche bildeten sich, schweigende Lagunen, Zuflüsse zum Stromsystem verlandeten, so konnte die Seenwelt entstehen, umrauscht von Wald. Und kleine Bäche wanden sich eiliger, entwässerten höhere Inseln, dort konnte Trockenheit werden, summende Wiesen mit hellen Blüten, unter dem sausenden Hummelflug, und warm glühte die Sonne, versprach den Faltern Leben und Taumelglut, einen ganzen Sommer lang.

Unübersehbar, unverständlich war die Vielfalt der Gebilde, waren die Träume der Erde, waren die Gedanken der Erde. Da waren die Flüsse, die Arme, die Bäche und abgetrennten Teiche, die Altwässer, die Lagunen und schilfumflüsterten Seen, die hohen Haine aus Buchen und Eichen, die haselstrauchumsäumten Wiesen, und die Schlingen und Ranken des Waldes, die Bäume, die rauschenden, himmelhohen Bäume mit der grünen Glut ihres Blätterdaches, da waren die Ranken und Winden, der Efeu, zärtliche Umhüllung bis zum Tode, da waren die Büsche, die suchten helle Stellen, auf leichter Fülle der Stämme und Äste tragend die Wasserfälle der Blätter, da waren die Kräuter und Gräser und kleinen Blumen, Stängel und Rispen, Blüten und Fiederblätter, Klee und wiegendes Unmaß der Halme. Da waren die Gestürzten: Moder umfing sie, Gewalt der uralten Stämme, hingestreckt auf den Boden, moosbewachsen, flechtenumhangen, bröckelnd, morsch, und die Rinde zerbrach, und das Holz verging, zwischen dem Unterholz, zwischen den Büschen, und blieben stehen die abgestorbenen Strünke, mit dem willensvollen Wurzelrest, die höhlte der Regen aus, die höhlte aus der Wind, die zerbrach der Frost, und sammelte sich Wasser darin, in dem niedrigen, ausgehöhlten Strunk, schwarzes Wasser in nievernommener Stille, darüber rauschten die Wipfel, und lebten Käfer darin, und die kleinen, zuckenden Tiere. Und Moose und Flechten umfingen den Grund, Farne auch, und wucherten über gestürztes Holz, über den Herbstteppich der toten Blätter, über vermorschte Äste, und war Gestrüpp, da lebten die Tiere, und konnte ein Mensch sich nicht hindurchwinden, denn undurchdringlich waren die Wälder. Und war die Erde willig, gab Raum auf der kleinsten Stelle dem Überfluss, der Ungemessenheit, das war der Wald. Da lebten Eichen und Buchen, und die mächtigen Linden, und die Ulmen hoben ihre zarten Gesten zum Himmel, vom zärtlichen Silber umgeben der Birken, und der Ahorn träumte über der Vielgestalt seiner Blätter, und trafen sich die dichten Wipfelwolken zu ewig rauschendem Himmel beschattend den Boden, und die jungen Bäume trieben nach und die Sträucher, das Licht fiel herunter in weichen Streifen, Leben schenkend, Leben. Und Wasser, dunkel und gewunden in seinen Strömungen, das spiegelte wider die Weiden und die Erlen, und lispelnde Eschen, und fanden sich die hohen Pappeln, die sprachen mit Schwermut zu den ziehenden Sommerwolken.

Und waren Lichtungen da, Wiesen, von feuchtem Geglitzer, mit wuchernden Grasinseln, andere trocken, und fand dort Gesträuch seine Möglichkeiten, verzweigten Geästes und Blättergeriesels übervoll, trug rote Beeren, trug grüne Früchte, trug Blütenstände, Haselstrauch, Schneeball und Weißdorn, Hagebutten und Faulbäume, die Glutenstürze der Sommermonate, wehte und nickte hinaus auf die Wiesen, auf die Kräuter und Gräser und Blumen und Moose. Und drangen die feinen Kräuter hinein in den Wald, suchten sich lichte Stellen, trieben die kleinen Walderdbeeren, und duftende Blätter, dass Knoblauchgeruch die Stämme umhüllte, und war da strotzende Fülle der Pilze, verborgen zwischen nassem Totlaub, mit fleischigen Hüten, daran die Schnecken krochen, und die Wiesen leuchteten, und sahen den Himmel.

Und waren die Wasser umschwankt von Rohr und Schilf, das wiegte sich im Wind, die Teppiche der Wasserpflanzen gaben unmerkbaren Laut, oh, sie träumten ihre Lebensträume auf der Wasserfläche, dass ganz geschlossen war das Gedunkel, Traumfinsternis, Lebensschoß im Wasser darunter, wer möchte es ergründen, Entenkraut, Wasserrosen, leises Glucksen von Mal zu Mal, dann öffnet der Teppich ein einziges Loch, schwarzes Wasser quillt hervor, ein Fisch war gesprungen, und der Teppich drängt sich wieder zusammen, ohne Merkbarkeit.

Und war da Erde und Wasser, Wasser und Erde, feuchte Gerüche in der streichenden Luft, Düfte der Kräuter und Blumen, der nassen Erde, der Stämme und Sträucher, und der Teiche und Flüsse.

War das seidene Rauschen des Windes, unentwegt, waren die Gedanken der Erde.

Hierdurch führte der Weg.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 15.08.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)