Die Armen und die Reichen

Nehmt die prächtigen Straßen auf dem Kontinent des Jungen, die tumultuarischen Einkaufsstraßen der großen Städte, in der Zeit unmittelbar vor den großen Kriegen, in der Zeit, bevor die Imperien der Mützen und der Stiefel die Sache zwischen sich auszufechten versuchten.

Der Unnachahmliche war da schon tot, aber noch nicht lange.

Das Telefon wurde erfunden, etwas später rumpelten die ersten Autos durch die Straßen, die Dampfschiffe fuhren Waren über die Weltmeere.

Die Ernährungslage der Wohlhabenden einerseits und der Armen andererseits war so unterschiedlich, dass die Armen im Durchschnitt um einen Kopf kleiner waren als die Reichen. Die Kinder der Armen bekamen von Geburt an weniger zu essen als die Kinder der Reichen, und was sie bekamen, war wenig nahrhaft. Oft war es so, dass die Armen ihr ganzes Leben lang nicht wirklich satt wurden. Sie hatten immer Hunger, und wenn sie einmal ordentlich zu essen bekamen, schlangen sie herunter, was nur hinuntergehen wollte, denn was man hat, hat man. Sie wohnten schlecht, die Armen, sie hatten kaum Zugang zu reinem Wasser, sie mussten als Kinder anfangen zu arbeiten. Sie blieben kleiner, deutlich kleiner. Selbst die Bauern in den besser gestellten landwirtschaftlichen Gebieten wuchsen höher als die Kinder der Arbeiter in der Stadt.

Ihr seht das Bild. Da waren die Reichen, wohl gekleidet, hoch tragend den Kopf, um den sie größer waren als die Diener ringsum. Helle Haut, gepflegte Haare, klare Augen. Blick der sagte: Mir gehört die Welt. Blick, der jedem Begegnenden gerade in die Augen schaute. Gerade Glieder. Deutliche Stimmen, gepflegt die Aussprache. Die Frauen konnten sich gemessen bewegen, das erlaubte ihnen, große Hüte zu tragen, mit bunten Gestecken. Helle Kleider in leuchtenden Farben, Kleider, die in jeder Saison nach neuer Mode gewechselt wurden.

Drum herum die wuselnde Menge der Armen, derer, die gerade so zurechtkamen. Schlecht gekleidet, Kleider meistens gebraucht gekauft, von gestriger Mode, fadenscheinige Stoffe. Oft entzündet die Augen, Gang von lastengebückter Eile. Krumme Glieder, krumm geworden von lebenslanger Überlastung, krumm schon gewachsen von Unterernährung von schlechter Ernährung von falscher Ernährung, von Kindesbeinen an. Kinder mit bloßen Füßen und krummen Beinen. Laut und lebhaft, aber wenn ein Reicher kam, ging der Blick zu Boden. Nicht frech anschauen den Hochmögenden! Tretet fromm auf, dann wirft er euch vielleicht eine Münze zu. Lärmige Stimmen, verschliffen die Aussprache, durch Schrift zuletzt informiert. Immer in Eile, immer keuchend, denn das Geld für das heutige Abendessen, das wollte zu Mittag immer erst noch verdient werden. Und, wie gesagt: kleiner waren sie als die Reichen, das lag nicht nur am gekrümmten Gang, sondern sie waren wirklich kleiner von Wuchs.

Ihr seht das Bild.

Vor allem die Reichen glaubten gern, die Armen und die Reichen unterschieden sich deshalb so sehr, weil sie unterschiedlichen Rassen angehörten. Die Armen, so glaubten sie gern, gehörten einer niedrigeren Rasse an, deshalb wurden und waren sie arm. Es war von Geburt an vorherbestimmt, dass sie arm wurden. Die Herkunft die Vererbung entschied das. Die Reichen, so glaubten die Reichen gern, gehörten einer höherwertigen einer überlegenen Rasse an: deswegen wurden und waren sie reich. Ob also einer arm wurde oder reich im Leben, so glaubten sie gern, das entschied sich durch seine ingeburtliche Ausstattung. Das war immer vorweg schon entschieden. Wenn ein Kind zur Welt kam, war ihm von Geburt an schon mitgegeben, ob es ein wertvoller reicher, oder ein minderwertiger armer Mensch werden würde. Die Wissenschaften der Zeit diskutierten das ernsthaft. Sie wussten ebenso ernsthaft, manche Menschen werden deshalb kriminell, weil das in sie von Geburt an so hineingelegt ist. Die Reichen glaubten in vollem Ernst, wenn sie durch Ungemach des Schicksals in ein elendes Viertel der Armen hinuntergerieten, so würden sie dort noch immer erhaben sein, in edlem Leiden und aufrechter Haltung ihr Unglück tragend, ersichtlich einer höheren Rasse angehörend, in aufrechtem Gang die Stiegen betretend der kohldurchdampften Treppenhäuser.

Glaubten sie im Ernst. Sie waren nicht schlauer nicht dümmer als das Menschtier sonst, und man muss zu ihrer Entlastung sagen, der Augenschein sprach für sie. Ihr werdet diese Straßen sehen, und auch euch werden die Klassen erscheinen wie verschiedene Rassen. Wesen verschiedenen Aussehens, verschiedener Sprache, verschiedener Haltung, verschiedenen Gangs, bewohnend dieselben Straßen, die einen befehlend den anderen.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 10.08.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)