Verantwortung

Man kann sagen, nach der religiösen Wende änderte sich alles für die Weibchen, und es änderte sich nichts. Sie hatten nun uneingeschränkte Teilhabe an allem, an allen Möglichkeiten und an aller Entscheidungsmacht. Uneingeschränkte Teilhabe aber bedeutet uneingeschränkte Verantwortung. Das Konzept der äonenalten Unterdrückung der Frauen durch die Männer war deshalb so verführerisch gewesen, weil es ja ein Abschieben von Verantwortung ermöglicht hatte. Wir haben gar nichts gemacht! konnten die Weibchen rufen, wie beschuldigte Kinder. Das waren alles die Männer! Wir hatten ja gar nichts zu sagen! Wir durften ja nichts sagen!

Sie hatten immer und allezeit ganz munter geplappert und das große Wort geführt, aber wenn nach Schuldigen gesucht wurde, waren die Schuldigen immer die Männer. Die Männer haben allezeit gemacht, lehrten die Taschen, und haben die Frauen vom Machen ferngehalten. Wenn‘s also schiefging, das Machen, und es ging ja immer schief, waren die Männer schuld! Noch Fragen?

Es versteht sich von selbst, dass die Taschen wenig lustig waren, die Mitverantwortung der Weibchen an den Verbrechen der Stiefel- und Mützenimperien zu untersuchen. Sie hatten aber doch mitgemacht, die Weibchen? Hatten den gestiefelten und bemützten Führern zugejubelt? Ihre gestiefelten und bemützten Ehemänner unterstützt? Hatten stolz ihren Töchtern zugeraten, wenn es darum ging, einen hochrangigen Stiefel eine hochrangige Mütze zu heiraten? Einen richtigen Mann also, einen, der was gilt und den man anschauen kann, nicht so eine Memme so einen Waschlappen wie diese Falschen, die sowieso alle in die Lager kommen! War die Verantwortung dieser Weibchen von der der Männer unterschieden? Die Ausrede, sie seien von den Männern zur Zustimmung gezwungen worden, hielt keiner historischen Überprüfung stand.

Je weiter die Frauenforschung voranschritt, will sagen, die ernstzunehmende Frauenforschung, jene, die die Tasche über der Schulter abgeworfen hatte, desto deutlicher wurde: ja, es stimmte, es hatte immer ein Leben der Frauen neben dem der Männer gegeben, eigenständig, mit eigenen Verkehrsweisen und Gewohnheiten und Ritualen, ein Leben, das das Leben der Menschheit insgesamt bestimmt und in seinem Wesen gefärbt hatte. Geschichte war keineswegs nur Männersache gewesen. Unendlich viel war noch zu schöpfen aus dem Brunnen der Geschichte, unendlich viel noch zu lernen. Die Geschichte des Menschtieres auf dem Planeten Erde war immer ganz genauso auch Frauensache gewesen – aber eben im Guten wie im Bösen.

Denn je weiter die Frauenforschung voranschritt, desto deutlicher wurde: bei allem, was das Menschtier auf dem Planeten Erde getan und gelassen hatte, waren immer auch die Frauen dabei gewesen, hatten mit entschieden, hatten mitgemacht, hatten ihre moralischen Entscheidungen getroffen.

Wenn Krankheit ausbrach und die Anderen als die Schuldigen ausgemacht wurden, denn sie hätten die Brunnen vergiftet: geifernde Frauen standen unter den Verfolgern an der Spitze.

Wenn Außenseiter im Dorf auszugrenzen waren: Frauen gifteten voran.

Wenn über die falsche Art jener von jenseits der Grenzen gehöhnt wurde: Frauen höhnten schrill.

Wenn es darum ging, dunkelhäutige Untermenschen niederzuhalten: Frauen ließen sich im Stolz auf ihre richtige und saubere Rasse von keinem Mann überbieten.

Wurde ein Rassenschänder aufgehängt in der Dorflinde – oder der Dorfsykomore, was das anbelangt – und ein Gruppenfoto gemacht vor dem Baumelnden, stellten sich die Frauen so auf, dass ihre günstige Seite ins Bild kam.

Sie waren immer dabeigewesen, die Frauen, sie hatten überall mitgemacht, die Geschichte des Menschtieres auf dem Planeten Erde war in jedem Sinne ihre wahrhaft eigene Geschichte gewesen.

So war der Erfolg der Taschendenke gleichzeitig ihr Untergang. Die Taschen erzwangen, dass endlich angemessen über das Leben der Frauen geforscht und nachgedacht wurde, dass die Quellen ausgemittelt wurden und zugänglich gemacht. Was die Forschung aber ergab, je länger je mehr, entzog der Hochgemutheit der Taschen die Schwungkraft: sie hatten mit drin gesteckt, die Frauen, in allem, sie hatten bei allem mitgemacht, sie hatten zugestimmt und angefeuert, sie waren dabei gewesen, und wo sie nicht selber zugeschlagen hatten, hatten sie beim Zuschlagen der Männer Schmiere gestanden.

Die Taschen hatten eine einfache Grundkonstruktion empfohlen, wo nicht anbefohlen: den Männern als alleinschuldigen Tätern seien gegenüberzustellen die Frauen als die unschuldigen Opfer. Aber Männer waren niemals nur die Sieger der Geschichte gewesen, vielmehr genauso oft und öfter noch die Opfer, und Frauen hatten mitgelitten, aber ebenso auch beim Tun der Täter mitgemacht und angefeuert. Das Bild der Geschichte, die Frauen miteinbezogen, wurde bunter und glänzender und tiefer, aber die Konturen änderten sich nicht, die Erzählung wurde keine andere. Es war, als hätte man bei einem altbekannten Gemälde den Ruß der Jahrhunderte entfernt, die Farben gereinigt und aufgefrischt, ungedachte Einzelheiten kamen ans Licht, neue Tinten machten sich geltend, oft blendend, zuweilen peinlich bonbonfarben, wer hätte das gedacht, murmelten die Restauratoren – aber als die Besucher herbeiströmten, fanden sie immer noch das altgewohnte Bild vor, wie neu jetzt, sagten sie befriedigt und gingen wieder an ihr Tagewerk.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 06.08.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)