Schritte tönten hinten auf dem Weg, tappende, ausgreifende Schritte, Lili hörte sie zuerst, und da kam Elisabeth herbeigesprungen, sie rannte wie ein Pferd, dass der Kies aufspritzte unter den nackten Sohlen, oh, sie war aus Eisen, die Frau Elisabeth, nun war ihre Kleidung in Unordnung, die Haare aufgelöst, sie galoppierte dröhnend herbei, mit den Armen fuchtelnd, „Halt!“ schrie sie, „Halt, bleibt stehen!“, und Lili wandte sich um, ohne im Laufen innezuhalten, beinahe wäre sie gestolpert, und wieder brüllte die Frau Elisabeth: „Halt, wartet!“, sie kreischte, das war es, und Waldemar und Eluard starrten vom Wagen herunter und rührten sich nicht, weiter ging die Fahrt, gleichmäßig, die Wagen knarrten und ächzten, es war ganz unmöglich, dass die da vorne auf dem Kutschbock etwas hörten, und die Frau Elisabeth schwenkte die Arme, Haarsträhnen fielen ihr in’s Gesicht, und eine Brust hing zum Kleid heraus, der Rock verfing sich immer wieder zwischen den Beinen, das hielt sie nicht auf, sie galoppierte weiter, und die Jungen starrten schweigend, da besprang sie die Wagen, einen Satz machte sie, einen riesigen Satz, und hatte die Hände oben auf dem Schlussbrett, Waldemar und Eluard prallten zurück, das Gesicht bleckte ihnen entgegen, breit gezogen die Lippen vor Anstrengung, mit glotzenden Augen und wirr flatternden Haaren, einen Augenblick hing so die Frau Elisabeth, die Beine in der Luft, sie machten lächerlich zappelnde Laufbewegungen, die Beine, im Bemühen, irgendwo Halt zu finden, aber das konnten die Jungen nicht sehen, sie sahen nur das schnappende Gesicht über den krallenden Fingern, dann gab es ein kratzendes Geräusch, und die Frau Elisabeth rutschte ab, stürzte auf den Weg, dass sie sich kugelte, auf den Rücken, die Beine in die Luft gestreckt, beinahe wäre Lili über sie gefallen, aber sie konnte noch ausweichen, Lili hielt sich tapfer, sie ließ nicht ab von den Wagen, Jeremias war schon weit zurückgefallen, erfüllte die Lüfte mit Geflenn, da kam die Frau Elisabeth wieder auf die Beine, mit irrem Blick, sie nahm die Beine in die Hand, dass die Röcke flogen, sie sah, dass es keinen Zweck hatte von hinten, sie musste nach vorne gelangen zum Kutschbock, und sie kreischte ein um das andere Mal: „Halt, bleibt stehen, wartet!“, und flügelte mit den Armen, den Oberkörper mit den haltlos hin und her dreschenden Brüsten weit nach vorne gestreckt, die Füße bedröhnten den Boden, vorbei an der Wagenplane, vorbei an den rollenden Rädern, den mächtigen, mahlenden, sie kam ernsthaft in Gefahr, aber daran dachte sie gar nicht, nur nach vorne kommen, sich durcharbeiten, das war ihr Ziel, und sie ruderte mit den Armen, den Händen, den Füßen, mit dem ganzen Körper, dann hatte sie es geschafft, sie war neben dem Kutschbock, Roger merkte zuerst gar nichts, dann sah er aus dem Augenwinkel ein weißes, kleiderflatterndes Bündel, und er fuhr zusammen und wandte den Kopf, da sah er die Frau Elisabeth, sie schnappte den Mund auf und zu wie ein Fisch auf dem Trockenen, und die Füße trommelten, dass der ganze Leib schütterte, um Schritt zu halten mit den Ochsen, verzerrt war das Gesicht vor Anstrengung, sie rief etwas, aber Roger konnte es nicht verstehen, Inge stieß ihn in die Seite, fahr weiter, fahr bloß weiter, und die Frau Elisabeth sah von unten zwei weiße Gesichtsscheiben, sprachlos ihr zugewandt, sie konnte schon nicht mehr gut sehen, das Blut hämmerte ihr in den Schläfen, und in der Kehle pfiffs und rasselte es, sie klammerte sich an am Kutschbock, mit der rechten Hand, die linke musste sie schwenken, ausholend, das Gleichgewicht zu wahren, „Bleibt stehen! Halt!“ schrillte sie, und Roger wies mit dem Peitschenstiel nach vorne, zu dem vorderen Wagen, zu Aslan, dort fuhr Aslan, der Herr der Wagen, der musste ja entscheiden, richtig, und die Frau Elisabeth griff aus, entstrebte, sie schaffte auch das noch, die nackten Sohlen droschen den Boden, die fliegenden Röcke drohten in die Räder zu geraten, egal, nur vorwärts, vorwärts, an den nickenden Ochsenhäuptern vorbei, die Tiere scheuten, als die kreischende Gestalt an ihnen vorbeiflederte, Roger brüllte und schwang die Peitsche, der Wagen geriet gefährlich aus der Bahn, nur weiter, nur weiter, „Halt! Halt!“, und vorbei an der Plane, die schwankte weiß in der Fahrt, ausgriff die Frau Elisabeth, sie schaffte es, „Halt! Wartet!“, da kam das Tor, da vorne, war schon das Tor, nicht nachlassen jetzt, die Kehle gurgelte, da war der Kutschbock, das Brett, sie griff danach, mit klammernden Fingern, rutschte wieder ab, dass es schnalzte, griff erneut, da wandte sich Aslan um, oben, starrte, starrte hinunter auf die Frau Elisabeth, die da grölend und um Atem würgend herbeigaloppierte, „Was ist?“ fragte er, und da war noch eine Gesichtsscheibe, die blickte hinunter, das war Grand Mère, die dicke alte Frau, sie schaute, „Halt!“ brüllte Elisabeth, „bleibt stehen! das Wunder! das Wunder Vautrins! alle müssen es hören!“, und sie klammerte sich an das Bodenbrett, schnappend und schreiend, und sie zog sich hinauf, halb, warf den Oberkörper vornüber, hing da, auf den rechten Arm gestützt, mit dem linken suchte sie Aslan zu packen, mit greifenden Fingern, und „Alle müssen es hören!“ brüllte sie, „Alle müssen anbeten!“, und ihre Stimme überschlug sich, und sie kreischte: „Anbeten! Anbeten! Das Wunder Vautrins! Das Wunder!“, und Aslan fühlte ihre suchenden, krallenden Finger, sah das eckig aufgerissene Schreimaul, wie es strebte, sich seinem Gesicht zu nahen, sie zog schon ein Bein hinauf, hinauf auf den Wagen, und da stieg es auf in Aslan, ein Gemisch aus Angst und Hass, Angst vor den krallenden Dörflern, sie wollten packen und halten, zupacken, immer wollten sie halten, festhalten, zum Gefangenen machen, das sollte ihnen nicht gelingen, und er holte aus mit dem rechten Arm, mit dem Peitschenstiel, und da donnerte es unter den Ochsenhufen, das war die Brücke, die Brücke war erreicht, das war der Weg, hinaus in’s Freie, und Grand Mère schrie auf, und Aslan holte weit aus, aus mit dem Peitschenstiel, und schlug ihn mit voller Kraft der Frau Elisabeth gerade in’s Gesicht.
Waldemar und Eluard konnten nicht sehen, was vor sich ging, aber Lili sah es, sie war weit zurückgefallen und stand am Wegrand, kleine Gestalt, und jetzt schlug sie entsetzt die Hände vor den Mund. „Was ist?“ fragte Eluard ängstlich, da begann es unter den Ochsenhufen zu dröhnen, und gleich danach unter den Rädern, das war die Brücke, und es hallte wider, sie fuhren unter dem Tor durch, und am Rande des vorbeiweichenden Weges lag ein tobendes, verschwitztes, schreiendes Bündel, das war die Frau Elisabeth, sie schabte mit den Armen, um sich wieder aufzurichten, und hob den Kopf, und die Jungen sahen, dass ihr die Haut aufgeplatzt war, quer über das Gesicht, und die Frau Elisabeth hob die Faust und drohte den Wagen nach, mit aufgerissenem Mund, und dann kam von hinten Lili herbeigelaufen, immer noch die Puppe im Arm, und beugte sich über die Schreiende, und Angst war in ihren Augen, und das war das letzte, was Eluard sah von der kleinen Lili, in dieser Welt.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 05.08.2022, © Verlag Peter Flamm 2022)